Tag 2072 – Milder gestimmt.

Arbeitstag mit seltsamen Komplimenten (ich folge doch nur Conduct of Inspections of Pharmaceutical Manufacturers or Importers Punkt 2.4) und ein bisschen Chaos und ein bisschen Langeweile und ein bisschen Eskalation. Bunte Mischung.

Zwischendurch (siehe Langeweile) habe ich mir Notenbücher bestellt. Ich habe nämlich letzte Woche aus einer Laune heraus meine Geige herausgeholt, bedröppelt festgestellt, dass alle Saiten mehr oder weniger hinüber waren, beide Bögen mehr oder weniger hinüber sind und das Schaumpolster und die Gummiüberzieher der Schulterstütze morsch sind. Im Vorrat fanden sich noch drei Saiten, die einzige wirklich kaputte – A – aber natürlich nicht. Also bestellte ich ich einen Satz und eine extra A-Saite und eine neue Schulterstütze. Und schrieb, nach Tipp des Lieblingskollegen, eine Kollegin an, ob sie einen Bogenmacher kennt, der wenigstens meinen Lieblingsbogen neu bespannen kann. Die ziemlich vielen gerissenen Haare am Bogen schnitt ich erst mal ab.

Gestern kam dann die A-Saite und die Schulterstütze. Der Saitensatz war ausverkauft. Aber so oft reißen Geigensaiten ja nun auch wieder nicht, wenn ich da irgendwann demnächst mal was bekomme, bin ich vorerst safe. Die A-Saite zog ich also auf (die anderen hatte ich letzte Woche schon gewechselt), stimmte, stimmte wieder, stimmte ca. 500 mal bis ich nicht mehr sofort nachstimmen musste, stellte den Steg wieder auf, der sich durch das Aufziehen der Saiten etwas geneigt hatte und dann spannte ich todesmutig zum ersten Mal seit ca. 15 Jahren meinen nun eben leicht ausgedünnten Bogen und schrappte ein bisschen auf den Saiten herum. Gestern ging das so mittelmäßig gut, der Bogen hopste sehr und die Finger wollten gar nicht mitmachen und alles an mir fühlte sich sehr verkrampft an. Außerdem waren meine Fingernägel zu lang und ich hatte geschafft, mich selbst zu kneifen. Aber schön war es. Ich mag ja meine Geige sehr, muss ich sagen. Sie klingt sehr schön und ist hübsch, sieht alt aus und ist es ja auch („Dachbodenfund“, aber restauriert) und sie ist meins und als Kind und Jugendliche haben wir sehr sehr viel Zeit miteinander verbracht. Dann kam Demotivation, weil ich irgendwann keinen großen Fortschritt mehr merkte. Vermutlich wäre es damals gut gewesen, eine*n neue*n Lehrer*In zu suchen, so im Nachhinein. Ich hörte halt nach der Schule einfach auf zu spielen, und zwei, drei Jahre nach der Schule wanderte die Geige in ihren Koffer und ward nicht mehr ausgepackt.

Heute probierte ich es noch mal, mit Noten und nicht nur Tonleitern. Nach einigem Graben hatte ich meine alten Etüdenbücher wieder gefunden und erwartete eigentlich etwa das gleiche Resultat wie gestern. Die ersten fünf Minuten war es auch so. Mein Bogenarm ist schlapp und der Bogen hüpfte und bewegte sich irgendwo zwischen Griffbrett und Steg wild herum, die linke Hand traf nur grob in Richtung der richtigen Töne und ich war froh, dass das niemand hörte (weil Herr Rabe und Michel Pokémon fangen waren und Pippi fernsah). Aber nach ein paar Minuten Konzentration auf die Finger ging das wieder und nach ein paar mehr Minuten Konzentration auf den Bogen lief auch der wesentlich runder (zumindest im Legato). Nach anderthalb Stunden tat mir alles weh, die Fingerkuppen, der rechte Arm, der linke Arm, aber: ich hatte ein Ergebnis produziert, das sich durchaus mit dem messen lassen kann, was ich vor mehr als 20 Jahren gespielt hätte, als ich mir an den 3 heutigen Etüden das erste mal die Zähne ausbiss.

Und vor allem hatte ich sehr große Freude daran. Es ist eben ein sehr schönes Instrument. Wenn man’s kann.

Vorläufiges Fazit des Tages, was das Geige spielen angeht: sehr schön. Ein bisschen wie Fahrrad fahren, zumindest auf das Niveau von 3-4 Jahren Unterricht (in Frau-Rabe-Unterrichts-Jahren, s.u.) kommt man schnell wieder. Gerne wieder, sehr gerne sogar. Unterricht wäre sicher gut, aber erst mal muss die Pandemie weggehen. Und morgen hab ich sicher Muskelkater, aber der ist ehrlich erarbeitet.

Freitag bringe ich den Bogen zum Bespannen lassen. Dann kann ich ihn voraussichtlich Dienstag wieder abholen. Solange muss ich mit dem anderen, noch ömmeligeren Bogen üben, aber was soll’s. (Das Bespannen selbst dauert nicht so lange aber Coronabedingt sind die Angestellten dort alle in Kurzarbeit und der Bogenmacher arbeitet nächste Woche nur Dienstag.) Ich freu mich.

P.S. Nicht dass Sie denken, ich wäre mal wirklich gut gewesen. Nope. Ich habe kein übermäßig großes Talent dazu. Ich kann sehr gut hören und bin sehr diszipliniert und kann auch fleißig sein, das ist drei viertel der Miete. Der Rest ist vermutlich Talent und das habe ich, wie gesagt, nicht. Aber ich muss ja jetzt auch gar nicht mehr mit den anderen viel talentierteren Kindern zusammen im Geigerkreis und im Orchester spielen und mir angucken, wie die mit der Hälfte der Erfahrung an mir im Können vorbei ziehen. Ich bin jetzt groß und kann das einfach für mich machen! Und wenn ich Vivaldi in halbem Tempo spiele, erfährt das niemand! Erwachsen sein ist toll!

7 Gedanken zu “Tag 2072 – Milder gestimmt.

  1. Sunni schreibt:

    Super schön! Weitermachen! Jaaaaa!
    Als es meinem Mann vor 4 Jahren sehr schlecht ging, erinnerte ich mich an seine Erzählungen von „als ich 10 war und in der Kindertanzgruppe auf dem Dorf zum Kinderdorftanz Geige spielte…“, kaufte eine ganz einfache Geige (seine existiert nicht mehr) und schenkte sie ihm. Er riß die Augen auf: Was soll ich damit, ich habe fast 60 Jahre keine Geige angefasst?…Spielen, sagte ich. Und der Mann hob die Geige ans Kinn, spannte den Bogen und strich los und spielte mit seinen alten Arthrosefingern und ich heulte wie ein Schlosshund vor Freude. Und ich musste mir dann ein paar Sätze zum ca 45 Jahre ungenutzten Klavier anhören. Seitdem machen wir Musik, wenn es irgend geht. Nein, nichts Großes , Tolle, nichts für andere, aber für uns. Und das ist einfach gut.

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  2. simonsfossy schreibt:

    Das ist ja schön 😊
    Die Geige ist von deinem Uropa, aber ich weiß gar nicht, ob der überhaupt spielen konnte …🤔

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    • simonsfossy schreibt:

      Nachtrag zur Geige:
      Dein Uropa konnte tatsächlich Geige spielen! Er hat sich wohl als, ca 20 Jähriger, mit der Geige auf den Weg gemacht, ist zwei Jahre durchs Land getingelt und hat hier und dort in diversen Lokalen Musik gemacht. Und einmal ist er mit einem Boot, auf einem See in Berlin, gekentert und dann musste die Geige nachgeleimt werden.
      Ich habe ihn leider niemals spielen hören, aber meine zuverlässige Quelle damals schon😊
      Und als du dann angefangen hast, haben Omma und Oppa sie restaurieren lassen.

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      • simonsfossy schreibt:

        Das „durchs Land ziehen “ muss demnach zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg gewesen sein….

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  3. ohmskine schreibt:

    Liebe Frau Rabe,
    das freut mich sehr für Sie.
    Mir ging es vor einigen Monaten ähnlich mit meiner Querflöte. Hab dann immerhin an Weihnachten beim „Stille Nacht“-Balkonkonzert mit meiner Tochter (1/2 Jahr Schul-Saxofon) getrötet.
    Mein Talent bestand immer darin, fürs Blasorchester nur genau soviel zu üben, daß ich dabei bleiben durfte.
    Das interfamiliäre Lieblingslied ist übrigens die europäische Hymne „Freude schöner Götterfunke“. Sie ist einfach zu spielen und gibt uns Lebensmut.
    Grüße vom Rhein,
    ohmskine

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  4. virtuellesgluecksbuero schreibt:

    Ich finde es großartig,daß sie die Musik für sich wiederentdeckt haben. Ichh bewundere jeden, der sich mit der Geige befasst. Hier ist es aus Mangel an Talent/Geduld aber mit Freude die Gitarre.

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  5. Ja, wenn diese unsägliche Pandemie überhaupt positive Nebeneffekte hat, dann, dass man lange nicht genutzte Instrumente wieder hervorkramt. Ich erfreue mich auch gerade an meinem.
    Viel Spaß und Erfolg!

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