Tag 450 – Trondheim. Ach, Trondheim. 

Damals, als es uns hierher verschlug, wusste ich nichts, wirklich gar nichts, über Trondheim. Die erste Nacht hier war dann gleich der absolute Horror, weil mein Couchsurfing-Host nicht auftauchte und auch nicht erreichbar war und ich mitten in der Nacht gestrandet war in dieser mir völlig fremden Stadt, gleichzeitig war eine Messe und ein Festival, es war also auch kein Hotelzimmer zu bekommen, ich war praktisch obdachlos. Und so zog ich mit meinem Köfferchen umher, nachts. Irgendwann mich selbst bemitleidend zweinend. Auf der Suche nach einem Schlafplatz. Ich erwägte mehrmals, irgendwo zu klopfen wo noch Licht war. Ich erwägte auch einfach alle Sachen, die ich dabei hatte, anzuziehen und auf einem Spielplatz in einem Häuschen zu schlafen. Am Ende bekam ich um vier Uhr nachts ein Hotelzimmer, der eigentliche Gast war nicht aufgetaucht. Komatös schlief ich drei Stunden. Kosten: 1700 NOK, damals 210 €. Messepreis. Am nächsten Tag stand ich gelinde gesagt etwas ab und musste doch zu vier (?) Wohnungsbesichtigungen. Und meiner neuen Arbeit. 
Seitdem habe ich Trondheim etwas kennen gelernt. Ich würde jetzt gerne schreiben, kennen und lieben gelernt, aber mal ehrlich: nein. Einfach nein. 

Norwegen ist schon ganz cool. Voll viel Natur, überall. Und alles dabei: Seen, Wälder, Berge, Flüsse, Fjorde: es gibt kaum Orte in Norwegen wo es nicht von all dem was gibt. Dazu kommt für mich das allerwichtigste: Familienfreundlichkeit. Kinderbetreuung ist günstig, üblich, und hochwertig. Betreuungsschlüssel von 1:3,5, davon kann ja ein deutscher Kindergarten im Normalfall nur träumen. Arbeitszeiten sind hier kurz. Teilzeitarbeit üblich, bei beiden Geschlechtern. Bezahlung ist gut, die Einkommensschere klein, überhaupt geht es hier bei allem gleicher zu als ich es in Deutschland kennen gelernt habe. Auch die Friseurin muss ja von ihrem Gehalt leben können, und an der Gesellschaft teilhaben können, deshalb sind die Preise dementsprechend hoch. Ich bin nicht sicher, aber sowas wie „prekär Beschäftigte“, also Leute, die von ihrem Einkommen allein nicht leben können, scheint es hier nicht zu geben. Hier ist schon der Aufschrei groß, wenn Familien berichten, sie könnten sich keinen Sommerurlaub im Süden Europas leisten. 

Letzteres kann ich nachvollziehen. Nicht vom Geld her, aber man muss hier mal raus. Einmal im Jahr die Sonne sehen. Nie hätte ich gedacht, dass ich das mal sage, aber ja: so ein Sommerurlaub muss sein. WEIL ES HIER KEINEN RICHTIGEN SOMMER GIBT! (Oh Hupsi, das ist mir so rausgeplatzt.) Ersthaft, ich weiß nicht, wie die Trondheimer dieses Wetter aushalten. Es gibt hier folgende Wetterlagen: 

  • 10 Grad und Regen. Das sind ca. 200 Tage im Jahr. 
  • 7 oder 13 Grad ohne Regen. 100 Tage im Jahr. 
  • 24 Grad und Sonnenschein. 10 Tage im Jahr. 
  • 28 Grad und Sonnenschein. 1 Tag im Jahr, an dem die Trondheimer unter der schier unerträglichen Hitze sehr leiden. 
  • -20 Grad und Schnee. 1 Tag im Jahr. 
  • -5 Grad und Schnee. 20 Tage im Jahr. 
  • -2 oder +2 Grad, Schneematsch und überfrierende Nässe, alles ist glatt. 33 Tage im Jahr. 

Ohne Witz, als Bielefelderin dachte ich, ich sei wettertechnisch Kummer gewohnt. Ich habe jetzt gelernt: in Bielefeld ist das Wetter weit entfernt von schlecht. Und in Bergen soll es noch schlimmer sein als hier. Ich möchte bitte niemals nach Bergen. 

Dazu kommt ja noch die Dunkelheit im Winter und die andauernde Helligkeit im Sommer. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Im Sommer kommt man nie ins Bett. Schon mal gar nicht, wenn man Kinder hat. Mein Körper glaubt mir dann um elf einfach nicht, dass mal langsam Bettzeit ist, wenn die Sonne noch scheint. Dafür möchte ich im Winter wie so ein Bär einfach im November schlafen gehen und nicht vor März aufwachen.  Da helfen auch keine Vitamin-D-Tabletten und Tageslichtlampen: wenn die Sonne nicht mehr über die Häuser kommt und die Schatten am Mittag doppelt so lang wie die Dinge sind, die sie werfen, dann ist das kein richtiger Tag. Und wir sind ja noch ein paar hundert Kilometer vom Polarkreis entfernt. In Tromsø (was ansonsten ein wirklich bezauberndes Örtchen ist) geht die Sonne über einen Monat lang gar nicht auf. Gar. Nicht. Ich möchte bitte auch niemals in Tromsø leben. 

Tromsø wär ja auch noch weiter von allem weg. Schon alleine deshalb ist das raus. Trondheim ist ja schon weit weg. Ich meine, 600 km in die nächstgrößere Stadt? Und diese 600 km fährt man ja nicht wie in Deutschland in 6 Stunden. Darf man erstens nicht und geht auch einfach gar nicht. Man kann Zug fahren. Haha. 8 Stunden nach Oslo. Und wenn man nach Bergen will (was man ja nicht will, aber mal mit dem Gedanken gespielt), muss man erst nach Oslo und dann nochmal umsteigen um die 500 km nach Bergen zu fahren. Noch mal 6 Stunden Zug. Absurd. Aber wie mans dreht: Trondheim ist abgeschieden. Das ist bestimmt schön für manche*. Ich fände aber zum Beispiel mal ein Konzert gut. Muss ich nach Oslo für. Oder gleich nach Stockholm. Theater? Jo, Trøndelag Theater. PUNKT. Und wenn mal das russische Staatsballett herkommt und IRGENDWAS aufführt, rennen alle da hin wie die Irren, WEIL SIE AUSGEHUNGERT SIND NACH KULTUR! Nicht (nur) weil Schwanensee halt hübsch anzusehen ist. Es ist Abwechslung und zwar die Einzige, die es mal gibt. Kein Wunder, dass sich die Jugendlichen hier zum Teil krass zusaufen zur Abizeit. Und dann wegziehen. Die Uni hier ist zwar gut, aber will man echt seine vermeintlich besten Jahre hier verbringen? Ich bezweifle es stark. 

Dass man hier nicht wegkommt, wird sich ab Frühjahr nächsten Jahres noch verstärken. Wie ich heute erfahren habe, wird nämlich die einzige Direktverbindung nach Deutschland eingestampft. Adjö, Trondheim-Berlin. Ab dann müssen wir nach Amsterdam und dann von da entweder abgeholt werden oder Mietwagen oder nach Hannover weiter fliegen oder Zug. So oder so wird es deutlich teurer werden. NOCH TEURER. Kost ja eh nix, mit zwei Kindern. Ha. Ha. Und das mit der Heimat voll von alten Leuten, die beängstigend schlechte Gesundheitszustände haben. Fühlt sich echt super an, im Zweifel hier festzusitzen. Danke, Norwegian airlines, für nichts. 

Und dann noch die Trondheimer. Nicht nur, dass sie den fiesesten Dialekt aller 400 Dialekte sprechen (empfinden zumindest die Norweger so, ich nicht, ich finde Stavanger am allerschlimmsten!), nein, die sind auch alle zugänglich wie Stockfisch. Nach drei Jahren hier zählen wir *NULL* echte Trønder zu unseren Freunden. Überhaupt haben wir kaum Freunde hier. Und alle sind entweder andere Ausländer oder zumindest ganz aus dem Süden oder dem Norden Norwegens. Da sind die Leute lockerer drauf, scheint mir. Dabei sind die meisten Trønder gar nicht echt verschlossen oder unhöflich. Man kann mit denen sogar feiern und Spaß haben. Aber dann vergesse ich am nächsten Tag das obligatorische „Takk for sist!“ und hab’s wieder mal für ein paar Wochen verkackt. Aber auch davon abgesehen: meist tut man hier einfach so, als würde man sich nicht kennen. Und das kotzt mich immer mehr an. Dabei hab ich’s so oft versucht: „Lass uns doch mal einen Kaffee trinken!“ – „Ja gerne, irgendwann mal.“ Und wenn man dann nachhakt: Grillenzirpen. Ach, ach. 

(Noch ein Jahr. Dann können wir hier weg. Und dann werde ich’s vermutlich vermissen.)

Trøndervær. Symbolbild.

*der Genpool ist aber auch gefährlich klein hier. Ich kenne schon alleine mehrere Erwachsene hier, die noch mehrere Milchzähne haben. Aus meinem früheren Leben kenne ich keinen einzigen. Aber das nur am Rande.