Tag 2665 – Das große Kind.

Das große Kind ist schon sehr groß. Wenn er steht, geht er mir bis da und wenn er in unserem Bett liegt (mit dem Kopf am Fußende, weil man so mehr Menschen pro Bettmeter untergebracht bekommt), sind seine Füße hier. Füße, die sich beängstigend schnell meiner Schuhgröße annähern, und die ich immer noch gar nicht schlimm finde, so wie Füße sonst. Muss daran liegen, dass ich immer noch die kleinen Knubbel-Speckfüße erahnen kann, die da mal waren, als das große Kind noch sehr klein war und gar nicht stehen konnte und mir deshalb bis gar nirgendwo ging. Stattdessen ließ sich das große Kind damals lieber tragen und es war insgesamt ja ein wohlgenährtes Wonneproppenbaby, weshalb das mit dem Tragen gar nicht mal immer nur schön war, aber eigentlich haben die Hormone das alles durch kuschligen Flausch überschrieben (danke, Hormone, aber ich will trotzdem keine weiteren Babys). Vom Wonneproppen sieht man jetzt nichts mehr, das große Kind besteht eigentlich nur aus Beinen und Armen, hauptsächlich Beinen. So muss das vermutlich sein, mit 10, jedenfalls sehen die Klassenkameraden alle langsam riesig aus und als würden einzelne Körperteile schneller wachsen als andere. Ich finde auch immer noch das große Kind optisch überaus wohlgeraten, aber da bin ich parteiisch, schon klar. Aber diese Sommersprossen und der Wuschelkopf, also, ganz objektiv…! Ist ja schon gut, ich höre schon auf.

Das große Kind ist auf mehrere Arten wohlgeraten, es ist beispielsweise immer noch sehr warmherzig und möchte, dass es allen, die es mag, gut geht. Ich rede mir ein, dass das selbst für die kleine Schwester gilt, und dass es nur ihr Bestes will und das nur seltsam zeigt oder zu erreichen versucht. Oder gar nicht seltsam, sondern einfach wie Geschwister. Am Ende näht das große Kind dann doch wieder dem kleinen Kind ein Kissen in Herzform, weil es weiß, dass das kleine Kind sowas mag. Und mein Mutterherz so awwwww bis sie sich 10 Sekunden später wieder anschreien. Aber zurück zum Thema, das große Kind kümmert sich rührend um alle, denen es schlecht geht. Es hat ein großes Herz und ein großes Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Das sind keine schlechten Eigenschaften, würde ich mal behaupten.

Außerdem ist das große Kind nach wie vor sehr kreativ und wenn es das kanalisiert bekommt, kommen da tolle Sachen bei raus, wie zum Beispiel ein Halloween-Kostüm, mit dem man Wettbewerbe gewinnt (ein Ra‘zac, aus Eragon, ja, jetzt wissen Sie alle Bescheid, nicht wahr?). Oder coole Lego-Dinge, die wirklich frei gebaut sind. Oder Bilder, die dazu aufrufen, weniger Bäume zu fällen. Weniger kluge Umsetzung der Kreativität ist es, sich den kompletten Körper mit schwarzem Filzstift anzumalen, inklusive Stirn, oder aus Neugierde Nutelladeckel in den Toaster zu stecken, aber das dürfte das große Kind jetzt gelernt haben. Hach ja. Als das große Kind noch sehr klein war, hatte es sehr schnell raus, dass man die Klötze gar nicht durch den Deckel der Steckbox prömmeln muss, wenn man stattdessen einfach den Deckel hochnimmt. Als es etwas größer war, malte es elektrische Wale und noch etwas später erfand es fliegende Roboter. Auf Kommando geht sowas natürlich nicht, und dann wird die Hausaufgabe, die ist, eine Geschichte mit mindestens 250 Wörtern weiterzuschreiben eben so ergänzt: „Auf ihrer Hand landete ein kleiner Vogel, und dann noch einer, und dann noch einer, und dann noch einer, und dann noch einer, und dann noch einer, und dann noch einer […], bis ihr Arm voller Vögel war.“ Pragmatisch ist das große Kind nämlich ebenfalls und es erkennt und befolgt Regeln ebenso zuverlässig wie es Schlupflöcher in Regeln findet und ausnutzt.

Ich bin sehr sehr stolz auf das große Kind. Es wird seinen Weg schon gehen, und ich freue mich drauf, dabei zu sein, ich glaube der Weg könnte spannend werden.

___

P.S. Ich hab dich sehr lieb, großer kleiner Murch. Hör nie auf, all die Fragen zu stellen, die dir ständig einfallen. Du siehst die Welt vielleicht mit etwas anderen Augen. Ich hoffe, die Welt sieht und schätzt dich weiterhin so wie du bist.

___

P.P.S sehr stark verspäteter Geburtstagspost.

Tag 2663 – Gute Ideen, schlechte Ideen…

Äpfel sind im Angebot, norwegische Äpfel, die guten. Da kann man ja mal Apfelmus machen. So… 5 kg. Das kann man machen, wenn die Kinder im Bett sind, und nebenher kann man ein paar Folgen The Good Doctor bingen und den Prosecco von Donnerstag leer machen und noch ein Ginger Beer hinter her kippen, weil halt. Dann ist es irgendwann sehr spät und ups, das Bett ist ja noch abgezogen und ich glaube das Apfelmus muss morgen fertig kochen, weil das Ginger Beer zwar lecker war aber auch überraschend stark. Hoppla.

Tag 2661 – Applaus!

Heute habe ich die Inspekteure und Inspekteurinnen im IT-Projekt eingewiesen. Es war ein wilder Ritt und am Ende haben alle geklatscht (außer mir) und geweint (ok nur ich und nur fast). Jetzt liegt das also hinter mir. Ich bin angeblich streng, so als Lehrerin, merke das selbst aber nicht. Andererseits habe ich angeblich auch eine Engelsgeduld. Auch das merke ich nicht. Spannend. Aber ja, ich habe heute ca. eine Schrillion mal das selbe gesagt, immer wieder die gleichen Abläufe erklärt, weil niemand zuhört, wenn man was für alle sagt, und jede*r dann in die selben Löcher tappst. Ich mache sieben Kreuze, dass ich nicht Lehrerin geworden bin, da würde ich über kurz oder lang bekloppt werden. So viel kann man gar nicht klatschen, auch wenn es natürlich echt lieb ist, wenn sie das am Ende tun.

Jetzt bin ich allerdings auch echt gar. Könnte aber auch am Prosecco liegen, mit dem ich den heutigen Meilenstein begossen habe, liegen. (Unter der Woche! Schockschwerenot.)

Tag 2659 – Wie ich mal voll stolz war…

… zum Zahnarzt gehen zu können mit blitzsauberen Zähnen, dank High-Tech-Luxus-Zahnbürste. Löcher hab ich ja nur minimale in zwei Backenzähnen, die sind nicht mal gefüllt, weil das scheinbar out ist, Löcher zu füllen die nicht größer werden und keine Beschwerden machen. Das ist immer langweilig, der Zahnarzt (oder in Deutschland war es noch die Zahnärztin, so lange habe ich diese Minilöcher nämlich schon) piekt dran rum, sagt dann „das ist alles fest, einfach beobachten“, ein minibisschen Zahnstein entfernen, einmal polieren und dann in nem Jahr repeat.

Aber heute früh rief leider die Sprechstundenhilfe an, der Zahnarzt sei leider mit krankem Kind zu Hause. Tjanun. Neuer Versuch in drei Wochen. (Und willkommen in Norwegen. Kann mir nicht vorstellen, dass das in Deutschland so passieren würde, aus gleich mehreren Gründen).

Jedenfalls habe ich jetzt ganz umsonst blitzsaubere Zähne. Aber das macht gar nichts, weil ich das Gefühl total mag. Die Zahnbürste war eine sehr gute Anschaffung. Falls Sie sich fragen, welche: es ist glaube ich die Nummer 3 des aktuellen Stiftung Warentest-Tests. Warum ausgerechnet diese? Tja, die günstigeren, ebenfalls sehr gut getesteten Alternativen sind hier allesamt nicht erhältlich und diese war im Angebot immerhin halbwegs bezahlbar, im Gegensatz zu Nummer 1 und 2, die eben nicht im Angebot waren. Mit der Zahnbürste kommt eine Reihe Schnickschnack, wie eine App, die anzeigt, wo man im Mund putzen soll und diverse Programme an der Zahnbürste selbst. Ich mache gerne abends „gum health +“, mit extra Massagefunktion fürs Zahnfleisch nach dem eigentlichen putzen. Morgens lieber „white +“. Am Wochenende, fürs Luxusgefühl, auch mal „deep clean +“. Echt viele Möglichkeiten und – das kann ich jetzt am Zyklusende verkünden – keinerlei Probleme mehr mit blutendem Zahnfleisch. Nix. Nada.

Beste Anschaffung. Freue mich jetzt drei Wochen lang drauf, den Zahnarzt davon zu erzählen.

Tag 2658 – Finger verbrannt.

Der IT-Projekt-Hass nimmt Ausmaße an, die hatte ich so kurz vorm Ende nicht für möglich gehalten. Andererseits ist es ja nur für mich das Ende, nicht für den Rest vom Werk, die dürfen sich noch weiter damit herumschlagen. Heute sind da allerdings auch wieder Sachen aufgetaucht, die hätte ich in einem staatlichen, norwegischen Etat nicht für möglich gehalten und jetzt weiß ich nicht so ganz, was ich damit machen soll (es ist nichts in irgendeiner Form illegales). Vielleicht schaffe ich es ja noch ne Woche oder zwei, auf meinen Händen zu sitzen? Aber das wäre gegen meine Integrität. Ach, ach.

Whatever. Bald vorbei, bald vorbei. Und sowas mache ich NIE. WIEDER. Niemals mehr. Generell glaube ich, ich gehe jeglicher Projektarbeit lieber aus dem Weg. Was für ein Clusterfuck.

Tag 2657 – Einfach schlafen.

Heute war in Norwegen die sogenannte „TV-Aktion“. Stellen Sie sich einen Spendenmarathon vor, aber alle machen mit, nicht nur 1 Sender. Alle Sender. Alle Radiostationen. News-Seiten. Kinder gehen von Tür zu Tür, um für einen guten Zweck zu sammeln. Dieses Jahr für Ärzte ohne Grenzen und die Medikamente gegen vernachlässigte Krankheiten -Initiative. Durchaus unterstützenswert also. Dass Kinder von Tür zu Tür gehen wird von den Schul(-elternräten) organisiert und da war administrative Not an der Frau, also sagte ich zähneknirschend zum Helfen zu. Das war relativ wenig schlimm (Dosen austeilen, Ausweise kontrollieren, Telefonnummern aufschreiben, sowas halt), allerdings sehr lang und Leute und huff. Nach den letzten 2 Wochen wollte ich eigentlich niemanden sehen, mein Akku ist auch was Menschen angeht echt total leer, ich kann kaum den normalen Kinder-Mecker-Streit-Lautstärkepegel aushalten und habe mir mehrfach die Ohren zuhalten müssen. Unter Leuten mache ich das natürlich nicht und dann entlädt sich der Akku halt noch mehr. Seit ich wieder zu Hause bin, möchte ich mich eigentlich weinend in der Ecke aufrollen oder schlafen oder beides. Und ich übertreibe da nicht. Das ist übrigens auch, was mein PMDS normalerweise ist. Vollständige Antriebslosigkeit für normale Dinge, selbst welche, die mir Spaß machen, gepaart mit großer, plötzlicher und alles umfassender Traurigkeit. Alles garniert mit eskalierenden Selbsthass, weil ich den A… nicht hochkriege und eine furchtbare Mutter/Ehefrau/Arbeitnehmerin etc. bin. Nur noch ein paar Tage.

Morgen Büro. Ich möchte schon beim Gedanken daran in Tränen ausbrechen.

Tag 2655 – Tatadaaaa!

In diese Richtung ist der Jet lag nicht so schlimm. Aber mir fällt generell ja lang wach bleiben wesentlich leichter als früh aufstehen.

Heute Abend haben wir die Kinder mitgenommen in die Philharmonie. Da war nämlich Filmmusikabend und das, dachte ich, gefällt beiden. Außerdem stand das im Programm auch als kindergeeignet und ich hatte die Hoffnung, dass dann nicht so schlimm ist, wenn eins oder beide Kinder eventuell nicht ganz mucksmäuschenstill für zwei Stunden da sitzen.

Und es war großartig! Also die Kinder fanden es gut (Pippi) bis total super (Michel). Pippi fand gut, dass sie auch für zwei Stücke (Frozen 2 und The Greatest Showman) eine Sängerin dabei hatten, die sehr schöne Kleider trug. Außerdem fand Pippi super, dass da fünf (5!!!) Schlagwerkspieler spielten, eigentlich sogar sechs, weil ein Pianist/Celesta-Spieler auch noch dabei war. Ansonsten wollte ich Pippi gerne irgendwann in ihrem Glitzerkleidchen am Stuhl festtackern, weil dieses Kind einfach keine Minute still sitzen kann und darüber hinaus konstant Geräusche produziert. Aus Begeisterung und Mitteilungsdrang zwar, aber trotzdem unpassend. Gesagt hat aber keiner was (außer mir halt).

Das Konzert war wirklich super. Filmmusik ist ja gemacht dafür, Emotionen zu transportieren und mit einem riesigen Orchester geht das natürlich auch leicht. Es war aber auch alles dabei, James Bond, Star Wars, Mission impossible, Superman, Harry Potter (das Celesta muss ja genutzt werden), Herr der Ringe, E.T., Jurassic Park und einiges mehr. Nur Hanz Zimmer nicht, weil der wohl seine eigenen Konzerttourneen macht und die Rechte nicht weitergibt, las ich. Wunderschön gespielt war Schindlers Liste (vom Solisten von vor drei Wochen, der auch ein sich grenzwertig viel bewegender Konzertmeister für den Rest des Abends war). Gänsehaut am ganzen Körper bei mehreren Stücken. Genereller Eindruck: Schlagwerk, aber vor allem Blechbläser, haben bei Filmmusik wesentlich mehr zu tun, als sonst gerne mal in Orchestermusik, dafür verschwinden die Holzbläser eher ein bisschen in der Klangmasse (wenn’s nicht grad Herr der Ringe ist). Aber macht wirklich Spaß zu hören, man darf zwischen den Stücken klatschen und ich empfehle das wärmstens weiter für Leute, die nicht soooo an klassischer Musik interessiert, aber neugierig auf Orchester-Konzerte sind. Falls ihnen sowas mal unterkommt, gehen Sie ruhig hin. Die Moderation war ebenfalls super, aber das ist natürlich überall anders.

Am besten hat mir gefallen, dass sich Michel bei der Zugabe (Pirates of the Caribbean) kaum halten konnte vor Begeisterung und wild auf seinem Stuhl wippte und mit den Armen wedelte. Manchmal ist der noch so niedlich! Unverstellte, kindliche Begeisterung.

Morgen üb ich dann auch selbst wieder. Heute hab ich die Geige abgeholt, die hat jetzt keine Macken mehr im Lack. Hurra!