Tag 2882 – Dies und das.

Die Kinder kamen heute beide sehr müde wieder zurück. Vor allem Michel hatte wohl kaum Schlaf und war dementsprechend nicht wirklich genießbar. Aber er hatte gestern eine gute Zeit und ging dann heute um kurz nach sechs ins Bett – und schlief beim Vorlesen schon ein, was in seinem Leben bisher vielleicht drei mal vorgekommen ist.

Trotz wenig Schlaf haben wir die Kinder gezwungen, den zugesagten Korpsspieltermin wahrzunehmen. Die „Kleinen“, also Aspiranten und Junioren, spielten bei der Saisoneröffnung des Bygdetunet, des örtlichen Freilichtmuseums. Das machten die prima, inklusive Marschieren. Sie haben noch den niedlich-Faktor, das war bei einem Stück ganz gut so, aber ich sag’s mal so: Farin hat am Freitag auch ne komplette Strophe in der falschen Stimmung gespielt. Passiert. Wir Eltern mussten übrigens mit, um den Kindern Notenständer und Pippi ihre Trommel hinterherzuschleppen. Aber das ist alles noch wesentlich besser, als sich jedes Wochenende mit Fußball um die Ohren zu schlagen.

Apropos Ohren: um meine ein wenig zu reinigen, ging ich zu einem Kammermusik-Konzert hier im Ort. Es gibt hier nämlich eine kleine Gruppe professioneller Musiker, die sich semi-regelmäßig für Kammermusik zusammentun. Ich wollte da schon länger mal hin, aber es kam immer was dazwischen. Dieses Mal aber nicht. Das Konzert war in der Kirche und auf dem Programm stand „Brahms+“. Die Musiker sind ein Hornist, ein Pianist und ein Violinist. Das klingt vielleicht wie eine seltsame Kombination, ist es aber, entsprechend arrangiert, gar nicht. Außerdem sind die drei einfach richtig gut, da ist fast* alles einfach schön. Zum Abschluss spielten sie das Horntrio von Brahms und bescherten mir damit gehörige Gänsehaut. Da werde ich auf jeden Fall wieder hingehen und auch Leute zwingen, mitzugehen, für die Qualität der Musik war das Publikum nämlich peinlich spärlich anwesend.

Ansonsten haben wir heute die davon sehr schockierten Schweinchen wieder zu Draußenschweinchen gemacht. Das hätten wir auch schon ein paar Wochen machen können, aber einer von uns war ja an den Wochenenden immer unterwegs und alleine kann man den Käfig nicht versetzen. Die Schweinchen waren wie erwähnt not amused, ich glaube, die mögen auch keine Veränderung. Bisher haben sie einen sehr kleinen Teil des Geheges neu erkundet und sich dann ins Häuschen zurückgezogen und mich sogar als ich mit Gemüse kam, nur skeptisch aus dem Haus angeguckt, ohne rauszukommen. Ich kann es ja verstehen, draußen ist alles anders, Geräusche, Gerüche, Untergrund, und es sind kleine, ständig in der Angst, gefressen zu werden, lebende Klopse auf Beinen. Aber erfahrungsgemäß werden sie sich dran gewöhnen und spätestens in ein paar Tagen immer quiekend am Gitter hängen, wenn die Nachbarn vorbei gehen, die werfen nämlich gern mal ein Salatblatt oder zwei aus deren Garten zu den Schweinchen rein. Das dürfen sie auch, sie haben gefragt, nicht dass Sie jetzt denken, Norweger würden sowas einfach ungefragt machen. Um Himmels Willen, das würde denen nicht einfallen! Es wurde ordentlich gefragt und jetzt freuen sich die Schweinchen über Salat und die Nachbarn über quiekende Schweinchen.

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*ok, das erste Stück war nicht mein Fall. „Appell Interstellaire“ (glaube ich) von Olivier Messiaen. Sehr, äh, modern.

Tag 2881 – Das eigene Doppelbett.

Ich bin wieder zu Hause. Heute war eigentlich nur Rückfahrt angesagt, um die Umwelt zu schonen und weil ich eigentlich echt gerne Zug fahre, mit dem Zug. Das dauert etwas mehr als sieben Stunden, plus die Zeit, die ich dann noch von Oslo nach Hause brauche. Das finde ich echt ok, wenn man sich beschäftigt. Ich habe mich mit Arbeit beschäftigt und jetzt kurz, ganz ganz kurz, das Gefühl, dass ich nicht total in Arbeit ersaufe. Ich hab aber nicht die ganze Zeit gearbeitet, sondern auch was gegessen, aus dem Fenster geguckt, Duolingo gedaddelt und Musik gehört. Die Arbeitszeit war zum Teil von gestern nachgeholt und zum Teil von sehr langen Sommerferien vorgezogen.

Da ist so ne Zugfahrt echt schnell rum. Zu Hause erwartete mich Herr Rabe und keine Kinder, die schlafen nämlich beide heute anderswo. Das ist eine ganz ungewohnte Situation für uns. Aber ich muss auch sagen, ich kuschele dann doch lieber mit Herrn Rabe im eigenen Bett statt in einem Doppelbett mit einer Person zu schlafen, die ich nur wenige Stunden zuvor kennen gelernt habe und bei der ein Teil meines Gehirnes die Nacht über damit beschäftigt ist, jegliches Kuscheln zu vermeiden. Jetzt müssen wir heute Nacht also noch nicht mal „befürchten“, dass irgendein Kind schlecht träumt und sich in unserem Bett breit macht. Auch das ist mal ganz schön.

Tag 2880 – Die beste Band der Welt in der schönsten Stadt der Welt.

Das war ein Fest! Ein sehr lustiges, vermutlich in weiten Teilen ungeprobtes Fest, mit verstimmten Instrumenten, vergessenen Texten, vergessenen Einsätzen, Fehlstarts und einem Publikum von ca. 1000 Leuten, denen das komplett egal war. Und ca. 25 Zugaben.

Und ich hab dann jetzt auch mal die Die Ärzte in einem ganz kleinen Saal gesehen. Gefühlt haben sie auch alles gespielt, was sie sonst nie spielen. Hach!

(Ich bin aber ebenfalls jetzt total im Eimer, war das anstrengend, ey, und ich bin 20 Jahre jünger als die.)

(Mein Herz geht raus an die crowdsurfende Frau mit der Kniebinde [wir werden ja alle nicht jünger] und die Roadies, ebenfalls gesetztere Herren um die 60. You rock!)

Tag 2878 und 2879 – Wohl müde.

Es ist diese Zeit des Monats, in der ich echt nicht gute Laune habe. Generell ist die Zeit des Jahres, in der ich nochmal sechs Wochen mit mehr als Vollgas durchklotze und deshalb ständig müde bin. Immerhin muss ich nicht, wie Herr Rabe, mehrere Nächte in Folge erfolglos Dinge migrieren. Es könnte also schlimmer sein.

Ich muss nach dem Sommer wirklich dringend Ämter loswerden. Zu viele Töpfe zum drin Rühren ruinieren die Nerven der Köchin, oder so. Aber bald ist ja Wahl, dann kann sich irgend eine Person, die weiter oben auf der Liste steht, in die Ausschusssitzungen setzen.

Die Kinder alternieren zwischen Kotzbrocken und erstaunlich großen und selbständigen Kindern. Wie das halt so ist. Pippi schläft jetzt seit neuestem manchmal alleine ein, „wie ein großes Mädchen“. Damit hängt ganz bestimmt nicht zusammen, dass sie aber ebenfalls manchmal „Ihr habt Michel viel lieber als mich!!!“-Heulanfälle bekommt. Michel kriegt nämlich noch vorgelesen und ich glaube langsam, das werden wir bei ihm auch mit 18 noch tun.

Gestern und heute hatte ich eine Inspektion, die zur Abwechslung mal kein überraschender Albtraum war. Zwischendurch ist sowas ja auch mal ganz nett. Ich wüsste auch nicht, wie ich noch einen weiteren Albtraum-Report schreiben sollte, vor dem Sommer, versteht sich, weil ich ja in drei Wochen schon in Korea bin und in vier Wochen nur noch einen Arbeitstag vor dem Urlaub vor mir habe. Und Jet Lag habe.

Gute Nachrichten gibt es aber auch aus anderer Richtung, nämlich finanziell, unter anderem* kam meine Steuer-Rückerstattung heute.

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*es kam auch was anderes, aber ich weiß nicht, ob ich das hier überhaupt erzählt habe. Die Moral von dieser Geschichte ist aber: leg dich nie mit Inspekteur*Innen an, die können Gesetzestexte lesen und verstehen und dir im Zweifel in feinstem Bürokrat*Innensprech um die Ohren hauen. Das kann dann für dich teuer werden.

Tag 2876 – Weiter sehr grün – Fortsetzung.

Fortsetzung vom gestrigen Beitrag, mal gucken ob ich heute durch komme mit erzählen.

Ich war also angekommen und mit meinen nassen Hosenbeinen in bester Gesellschaft. Die anderen waren – bis auf einen, der mit dem Fahrrad gefahren war – auch alle durchs Moor gestapft. Sie hatten schon die Grünen-Fahne gehisst und saßen beim Mittagessen, wohlverdient und 2 Stunden hinter dem Plan. Tjanun. Von dem Politiker mit dem lustigen Namen war ich ein bisschen star struck und bekam nicht viel heraus, außerdem war ich wie gesagt in erster Linie durstig, in zweiter hungrig und in dritter nass. Nach zwei Scheiben Brot zog es sich draußen aber bedrohlich zu, wir packten also alles zusammen und zogen in die Hütte um. Da drin war es sehr klassisch hüttenmäßig. Kein Wasser, keine Elektrizität (außer das was von einem ganz kleinen Solarpanel draußen geliefert wurde, was mit dem Regenwolkenhimmel quasi nichts war), keine Heizung, einziger Luxus ein gasbetriebener Kühlschrank und ein Gasherd. Wir machten in der Stube also erst mal den Ofen an, 15 Grad Innentemperatur sind für Leute mit nassen Füßen jetzt nicht grad gemütlich. Der Ofen war leider relativ wenig effektiv, weshalb wir auch die Kinder schickten, in den Zimmern, in denen Leute schlafen sollten, schon mal Feuer zu machen. Bald stapelten sich vor dem Ofen in der Stube auch ein Haufen Schuhe, um sie, wenn schon nicht trocken, doch wenigstens warm zu kriegen. Meine Füße waren trotzdem wie Eis, ich hatte ja auch noch die nassen Socken und die nasse Hose an. Unterm Tisch rubbelte ich die Füße aneinander.

Dann hatten wir 2 Stunden Session über den jetzt beginnenden Wahlkampf. Im September sind Kommunalwahlen (und Fylkesting, aber wen interessiert der schon). Ich glaube ich sagte so drei Sätze, aber dem Politiker mit dem lustigen Namen hätte ich, schon allein wegen seiner überaus angenehmen Stimme, stundenlang zuhören können. Ich wollte auch, dass der Parteichef wird, als die vorherige Parteichefin wegen Burnout das Amt niedergelegt hat, aber es wurde dann ein anderer. Aber ich schweife ab, wir sprachen über Wahlkampf und wir stellten fest, dass wir eigentlich alle in der Partei sind und uns da engagieren, nicht etwa, weil wir so gerne im Rampenlicht stehen oder Politik und Debattieren so geil finden, im Gegenteil, die meisten von uns finden das eigentlich furchtbar. Aber wir haben alle das Gefühl, das zu müssen, weil sonst irgendwie alle nur sagen, dass wir jetzt aber mal echt dringend das Klima retten müssen, aber nichts tun. Nach dieser Erkenntnis merkte ich, dass ich langsam abschaltete, zu viel Leute, zu seltsame Situation, in die ich auf nicht geplante Art gelangt war. Ich bin sicher, die anderen hatten noch fruchtbare Diskussionen. Ich hab die Bäume draußen angeguckt und immer mal wieder ein Holzscheit in den Ofen gesteckt und Schuhe durchgetauscht, damit alle mal in der ersten Reihe stehen können.

Danach war es auch schon Zeit zum Abendessen. Ich hätte eigentlich auch da schon gehen können, weil ich platt war, aber ich wollte nicht unhöflich sein. Es wurden Burger aus Lammgehacktem gemacht. Es gab auch vegetarische Burger, aber, und das wird jetzt vielleicht schockieren, wir aßen alle das Fleisch. Alle. Niemand dort war nämlich echte*r Vegetarier*In, und wenn man Fleisch in vernünftiger Qualität und aus verantwortungsvoller Quelle angeboten kriegt, sagt von den dort Anwesenden niemand nein. Der Politiker mit dem lustigen Namen war ganz aus dem Häuschen, er meinte, das sei das erste mal, dass er bei einer Grünen-Veranstaltung ist, wo alle Fleisch essen.

(Abschweifung: Norweger*Innen salzen irgendwie sehr binär. Entweder es ist so salzig, dass man nichts anderes mehr schmeckt (Fertiggerichte zu 90%, Kantinenessen auch oft) oder es ist zu wenig Salz dran. Viel zu wenig Salz ist in allen Broten, insbesondere selbst gebackenen, aber auch die Burgerpatties hätten noch eine gute Portion mehr Salz vertragen können.)

Ich half beim Kochen ein bisschen mit, hauptsächlich, weil der Politiker mit dem lustigen Namen und der angenehmen Stimme das auch tat, und kam so in den zweifelhaften Genuss der Erfahrung, Zwiebel mit einem Brotmesser zu schneiden. Es waren keine anderen Messer da. Merke – auch auf Hüttentouren eigene Messer mitnehmen.

Nach dem Essen, also ca. in der Sekunde, in der die letzte Gabel hingelegt wurde, fragte M., die auch nicht übernachten wollte und dementsprechend auch zum Windrad zurück musste, ob wir gehen wollen. Nie war ich dankbarer, es war echt schon hart an der Grenze des für mich machbaren. Was ich nicht auf dem Schirm hatte, war, dass der Politiker mit dem lustigen Namen mit ihr mitfahren sollte. Also gingen wir zu dritt. Die beiden kennen sich schon länger und unterhielten sich gut und ich konnte ein bisschen mehr in den Wald gucken und atmen und langsam runterkommen. Das war schön.

Wir gingen zurück einen anderen Weg. Nicht durchs Moor. Der Weg war so einfach zu gehen, dass wir uns für den Hinweg auch gleich noch mal leid taten, allerdings waren wir auch einig, dass der, wenn man nicht weiß, wo der von der Straße abgeht (was man ja nicht weiß, wenn man da noch nie war), nicht wirklich zu finden ist. Aber 15 Minuten über einen deutlich erkennbaren, trockenen! Trampelpfad im Wald (ok, ein bisschen hoch und runter und Wurzeln und Steine sind da schon auch, aber absolut kein Vergleich zum Hinweg!) und 15 Minuten Schotterstraße ist doch ein erheblicher Unterschied zu den 1,5 Stunden querfeldein durch unwegsames Gelände vom Hinweg. Wir waren sehr angetan von dem Weg.

Am Windrad machten der Politiker mit dem lustigen Namen und ich noch Selfies mit dem Windrad, unter anderem, wie wir das Windrad anfassen. Wir fotografierten auch den kompletten Windpark, der ist nämlich schon echt groß und wird noch weiter ausgebaut. Und wir waren uns einig: natürlich ist das ein Eingriff in die Natur, nicht mal so sehr das Windrad selbst, aber all die Zufahrtswege. Natürlich macht so ein Windrad auch ein Geräusch. Es ist aber schon in ca. 100 m Entfernung nicht mehr vom allgemeinen Waldrauschen zu unterscheiden und selbst direkt darunter stehend ist es auch nicht lauter als der Wind in den Ohren selbst. Wind macht eben ein Geräusch, bzw. wahrscheinlich eigentlich nicht, sondern Wind, der am Ohr oder anderen Dingen vorbeirauscht und dabei Turbulenzen verursacht, macht ein Geräusch. Man möge mich korrigieren. Vielleicht gibt es geeignetere Orte für Windräder, aber ein unbewohnter Hügelkamm ist jetzt nicht so unbedingt das allerschlimmste. Wenn wir vielleicht die geschotterten Zufahrtswege noch minimieren oder durch irgendeine andere Lösung ersetzen könnten, wäre das spitze.

Nun denn, ich stieg also ins Auto ein und… es zeigte 26 km Restreichweite an. Ich war definitiv mehr als 26 km von zu Hause entfernt. Allerdings ist diese Anzeige bei Cardos auch eher so eine grobe Schätzung und hat oft mit der Realität nicht viel zu tun. Die anderen beiden sagten, sie fahren hinter mir, falls ich liegen bleibe. Das war sehr nett.

Erst mal rollte ich aber gemütlich vom Berg runter. Eigentlich ging es bis zur nächsten großen Straße nur bergab und als ich unten angekommen war, hatte ich bereits 36 km Reichweite. Den Rest der Strecke fuhr ich so gleichmäßig wie möglich. 60 km/h, auch da wo 80 gewesen wäre, stoisch die immer länger werdende Schlange Autos hinter mir ignorierend. Als ich anfing, Orte zu erkennen (den Hof, bei dem die Sporthort-Kinder manchmal sind und Pferde streichen dürfen zum Beispiel) und noch zweistellige Restreichweite hatte, atmete ich gefühlt seit 40 Minuten das erste mal aus. Zu Hause kam ich dann an mit 9 km. Da blinkt das Auto innen wie eine Kirmes, dass man es auf jeden Fall laden soll. Was ich dann auch tat.

Zu Hause zog ich als allererstes Schuhe, Socken und Hose aus (Schuhe und Socken weiter leicht feucht) und berichtete kurz vom Tag. Brachte danach Michel ins Bett. Ich glaube, ich bin noch vor ihm eingeschlafen.

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Fortsetzung von Tag 2 folgt, mir fallen die Augen zu.

Tag 2875 – Weiter sehr grün.

Die letzten zwei Tage hatte ich ein Grünen-Seminar. In einer Hütte im Wald, wo 2015 (oder 2017?) auch die Reality-Show „Farmen“ gedreht wurde. Die Hütte im Wald ist eigentlich ganz gut angebunden, aber der Weg, so wurde uns gesagt, ist gesperrt wegen Eis und Schnee. Wir könnten da an der Schranke parken und die restlichen 4 km laufen, oder wir könnten „über Odal“ fahren, am Windrad parken und runter zur Hütte laufen. Bei diesen Optionen dachten wir irgendwie alle, die zweite Option sei wesentlich kürzer und schneller als der 4 km Marsch. Geben Sie ruhig zu, dass Sie das auch dachten.

Aus Gründen fuhr ich etwas später als der Rest. Ich musste also meinen Weg „über Odal“ zu dem Windrad allein finden. Da die Hütte nur ca. 20 km entfernt ist, nahm ich Cardos.

Und fuhr. Und fuhr. Und fuhr. Weit mehr als 20 km, und war immer noch nicht in Odal. Gefühlt war ich fast in Schweden. Mein Zeitplan löste sich in Schall und Rauch auf. Aber irgendwann, nach 50 Minuten Gegurke, stand ich tatsächlich vor einer Schranke mit Zahlenschloss, wie die Wegbeschreibung gesagt hatte.

Nur ging der Code nicht. Hmm, dachte ich, bestimmt bin ich an der falschen Schranke. Bestimmt haben die hier für jedes Windrad ne eigene Schranke oder so und ich war dank mangelndem Orientierungssinn einfach an der falschen.

Also fuhr ich zurück. Das Auto meinte, es sei zu 50% leer gefahren, aber es waren keine weiteren Schranken aufzufinden. Eine aus der Gruppe schrieb, das müsse die richtige Schranke sein. Es gebe keine andere. Aber das Schloss sei hakelig. Ich war nur Nanosekunden davor, einfach wieder nach Hause zu fahren, drehte aber um, fuhr die 5 km zur Schranke zurück (die Batterie sagte 40%) und rupfte unwirsch am Schloss herum, das – oh Wunder – aufploppte.

Grummelnd fuhr ich die restlichen 5 km zu Windrad 1. Da parkten eine Reihe weiterer Autos, ich schien also richtig zu sein.

Mein Kontakt schrieb, ich solle einfach immer an der Hochspannungsleitung lang gehen. Das sagte auch die Wegbeschreibung. Nun ist es aber ja so, dass eine Hochspannungsleitung zwei Endpunkte hat. Und ich habe keinen Orientierungssinn, wie bereits erwähnt, und kann mit „Richtung Eidsvoll“ einfach gar nichts anfangen, wenn man Eidsvoll nicht sehen kann. Ergo ging ich erst mal ein paar hundert Meter in die falsche Richtung.

„Gehen“. Ich kraxelte über die Geröllhügel, über die so Hochspannungsleitungen halt gerne mal gehen. Wir sind ja hier auch in Romerrike, das für seine sanft-hügelige Landschaft bekannt ist. Unten am Geröllhügel 1 war außerdem sehr nasser Lehmboden, der bekanntlich sehr rutschig ist. Aber auch weich, wenn man drauf fällt, das weiß ich jetzt. Danach war mein Po etwas feucht, aber was soll’s, ich hatte ne olle Jeans an.

Oben auf Geröllhügel 2 sah ich nach unten. Das sah NICHT aus, als könne man da mit Kindern, wie die vorausgehende Gruppe, runter steigen. Mit einem ausgeklügelten System aus Sonnenstand und Google Maps bestimmte ich, dass ich auf dem Weg von Eidsvoll weg war. Also kraxelte ich den Geröllhügel wieder runter und kraxelte in die andere Richtung los.

Nach ein paar hundert Metern in die andere Richtung fiel mir auf, dass meine AirPods weg waren. Nicht, dass ich Musik hören wollte, es fiel mir einfach auf, als ich auf die Tasche klopfte. F***, dachte ich erst, dann fiel mir ein, dass ich ja ausgerutscht war, da waren sie mir bestimmt aus der Tasche gefallen. „Find my“ bestätigte diesen Verdacht. Also ging ich zurück und tatsächlich – da lagen meine AirPods ganz friedlich im Moos, genau neben dem Abdruck von meinem Hintern und der Rutsch-Spur von meinem Fuß im Lehm. Schwein muss eine haben.

Also wieder zurück. Inzwischen war ich eine halbe Stunde herumgelaufen ohne irgendeinen Streckenfortschritt zu machen. Tjanun. Aus mir wird in diesem Leben keine Orientierungsläuferin mehr.

Ab da ging es „einfach“ an der Hochspannungsleitung lang. „Einfach“, weil eine Hochspannungsleitung wenig Rücksicht auf Bodenbeschaffenheit nimmt. Ich erklomm deshalb mehrere weitere Geröllhügel, stapfte durch kleine Waldabschnitte (weil es zum Beispiel streckenweise zu steil war, um direkt über das Geröll zu klettern) mit sehr dickem, sehr nassen Moos und bekam nasse Füße und musste schon da sehr lachen über mich und diese absurde Situation, wie ich da, völlig unvorbereitet, allein, in Jeans, T-Shirt und Barfuß-Halbschuhen Wege gehe, die hartgesottenen (Deutschen) Wanderer*Innen vermutlich den Schweiß auf die Stirn treiben würden.

Dann stand ich vorm Moor. Da ging die Trasse einfach drüber. Ich erwog meine Optionen, quer durch oder drum rum, und wählte drum rum. Aber nicht großräumig genug, und ich sackte mehrmals wirklich gruselig tief ein. Immerhin blieb keiner meiner Schuhe stecken, das passierte wohl der anderen Gruppe. Ich musste mehrmals sehr laut lachen, es stand zwischen Lachen und sich hinsetzen und aufgeben und auf den Bären warten, der mich fressen kommt. Oder den Wolf. Oder den Vielfraß. Oder den Luchs. Die ganze Situation schrie versteckte Kamera. Irgendwann war ich aber um das Moor herum und kraxelte, jetzt mit quatschenden Schuhen und klitschnassen Hosenbeinen, wieder Geröllhügel hoch. Ich beschloss zeitgleich, mir um den Rückweg vorerst keine Gedanken zu machen, mich gegebenenfalls aber strikt zu weigern, den selben Weg noch mal zu gehen.

Drei Hügel und ein weiteres Moor später konnte ich einen Weg sehen, der mich laut Google Maps und der Wegbeschreibung zu der Hütte bringen sollte. Hurra! Ein letzter, sehr gruseliger, weil sehr steiler, Abstieg und ich war auf einem befestigten, erkennbaren Weg!

Inzwischen war ich seit eineinhalb Stunden unterwegs.

Der letzte km des Weges ging über besagten Weg und ich konnte zwischendurch das Eis und den Schnee, die Schuld waren, dass man da nicht fahren konnte, bewundern. Es sind so etwa 5 Meter Weg, auf denen noch ca. 2 cm Restschnee pappt. Der ist schon so nass (ich hatte ja eh schon nasse Füße), dass er sich sofort zu Matsch verdichtet, wenn man drüber läuft. Wahrscheinlich würden 2 Autos schon helfen, die einmal drüberfahren und das ganze ein bisschen verteilen und ein bisschen Energie aussetzen, dann wäre dieser Schneefleck Geschichte.

Nach 1 Stunde 45 Minuten Odyssee kam ich, sehr grün riechend und nass bis zum Knie, an der Hütte an – und bekam einen kleinen Schrecken, weil ein *hust* überaus attraktiver *hust* Stortingspolitiker mit einem Namen, der darauf hindeutet, dass seine Eltern nicht so viel Rücksicht darauf genommen haben, dass das Kind gemobbt werden könnte, auch da war. Ich kollabierte erst mal fast am Esstisch im Garten und schüttete einen Liter Wasser in mich rein – ich war wirklich vollständig unvorbereitet auf diese Tour aufgebrochen und hatte nicht mal Wasser dabei. Ich hätte bestimmt Moos auspressen können, aber da komme ich natürlich jetzt erst drauf (und so scharf auf Fuchsbandwürmer etc. bin ich auch nicht).

Aber ich hatte es geschafft! Yeah! Der ehemalige Bauernhof ist wirklich hübsch, alles sieht aus wie auf Bullerbü. Wir hissten die Grünen-Fahne und verglichen nasse Schuhe und Hosenbeine, während wir Mittag aßen. Dank unverhoffter 3 Stunden Alleinzeit (erst im Auto, dann im Wald/Moor/Geröll) war ich sogar halbwegs sociable, Hurra.

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Fortsetzung folgt, es ist ja schon viel zu spät.

Tag 2874 – So grün.

Sie müssen entschuldigen, ich hatte heute unerwartet viel Kontakt mit Natur, darauf war ich weder Kleidungsmäßig noch geistig eingestellt und jetzt bin ich einfach absurd müde. Morgen kann ich mehr dazu schreiben, wie ich mich nahezu in einem Wald/Moor verlief. Allein. Wussten Sie, dass Moor auch so ein Fließverhalten hat, dass man, je schneller man sich bewegt, tiefer einsinkt? Ich auch nicht. Ich dachte, ich könnte da vielleicht elfengleich drüber hüpfen. Haha.

Morgen nehme ich einen anderen Weg, das ist schon mal sicher.

Tag 2873 – Endlich wieder Fragebögen!

Herr Rabe und ich haben jetzt zwei Tage ADHS-Kurs für Eltern hinter uns. Uff, ey. Es ist nicht so, als wäre das in irgendeiner Form verpflichtend, also gezwungen hat uns niemand dazu. Es ist aber gleichzeitig eins der ganz wenigen Angebote, die es für Eltern in dieser Situation überhaupt gibt, also haben wir es wahrgenommen, als es uns angeboten wurde. Und wenn man sich angemeldet hat, ist es tatsächlich verpflichtend, auch aufzulaufen (ich nehme an, Kopp unterm Arm wäre eine gültige Ausrede). Also liefen wir auf.

Jetzt ist es aber ja so, dass Herr Rabe und ich schon im Vorfeld vielleicht überdurchschnittlich gut informiert waren, ganz sicher aber eine schnelle Auffassungsgabe haben und bei Redundanz oder Irrelevanz schnell geistig abdriften und/oder (ich kann da nur für mich sprechen) innerlich sehr laut orrrrren. Das hätte ich sicher ahnen können, das ist ja nicht das erste mal, dass wir in einer Gruppe zusammengewürfelter Menschen sitzen und uns irgendwas anhören sollen. Habe ich aber nicht. Die Psychologin hatte den Kurs auch sehr angepriesen.

Ich will mich gar nicht so mega beschweren. Ich versuche es. Ich wollte auch offen da ran gehen, aaaaaaber dann mussten wir an einem Tisch in der Mitte sitzen, wo man nur die Möglichkeit hatte, mit dem Rücken zu anderen Menschen zu sitzen, das Licht war grauenvoll grell (Leuchtstoffröhren verbieten JETZT!) bei gleichzeitig heruntergelassenen Rollos, die Lüftung war laut. In einem Raum voller Menschen mit Kindern, die ADHS haben, was eine starke erbliche Komponente hat, fand ich das… mutig. Oder… interessant (auf die Biolek-Art). Aber bestimmt sind all unsere Kinder nur spontan auftretende Mutationen und wir Erwachsenen sind einfach nicht in dem Club dabei, ganz bestimmt.

Die Kursinhalte waren in größere Themengebiete unterteilt und klar gegliedert, es gab eine übersichtliche Agenda mit genauen Uhrzeitangaben. Scheinbar kennen sie ihre Klientel also doch. Zuerst kam Info darüber, was ADHS überhaupt ist, wie es festgestellt wird, wie oft und bei wem es vorkommt, welche Typen es gibt, und, und da kam mein erster „hä?“-Moment, was die Ursachen sind. Oder, besser gesagt, was manche für die Ursachen halten, ohne Quellenangabe. Und da fanden sich so Dinge wie „Komplikationen in der Schwangerschaft“ und „Komplikationen unter der Geburt“. Welche „Komplikationen“ denn darunter fielen, wussten die Psychologinnen nicht. Ob es einen klar nachgewiesenen kausalen Zusammenhang zwischen Komplikation x und ADHS gibt, auch nicht. Auch nicht, ob nicht vielleicht der Zusammenhang andersrum sein könnte, oder ob es einen dritten Faktor gibt, der mit beidem zusammenhängt. Es wäre ja denkbar, dass Babies, deren Gehirn anders ist, in der Schwangerschaft schon mehr Probleme haben, oder unter der Geburt schneller gestresst werden, was dann oft Interventionen nach sich ziehen kann. Oder dass Mütter mit ADHS aus Gründen (sensorische Probleme, Schwierigkeiten, regelmäßig irgendwas einzuwerfen oder rechtzeitig dran zu denken, sich für nen Geburtsvorbereitungskurs anzumelden, etc.) statistisch mehr Schwierigkeiten in der Schwangerschaft und bei der Geburt haben UND das ADHS auch an das Baby vererben. All das wussten die zwei Psychologinnen nicht. VERPFLICHTENDE STATISTIKKURSE UND KURSE IN QUELLENKRITIK IN DER PSYCHOLOGIEAUSBILDUNG JETZT! Und Quellenangaben auf Folien. Das auch. Mich würden diese Studien nämlich echt mal interessieren, so als ständig an allem herummeckernde Inspekteurin mit Hang zu überbordendem Detailfokus und einem Herz für Statistik.

Nun ja. Danach war erst mal Mittagspause, das war dann auch wohlverdient. Von den 25 Eltern/Elternpaaren hatten so 5 geschafft, sich von zu Hause Lunch mitzunehmen. Der Rest, darunter wir, traf sich im nahe gelegenen Supermarkt. Der hat aber leckeres Börek und Butterbrot ist eh nicht so meins.

Nach der Mittagspause gab es einen langen und langatmigen Vortrag über Medikation. Selbst mir als Hilfspharmazeutin war das zu viel und dabei gleichzeitig zu wenig. Man muss echt nicht für jedes mögliche Präparat die Dosierung, Nebenwirkungsspektrum, Wirkdauer und Markennamen aufzählen, oder, wenn man das schon tut, kann man das übersichtlicher und weniger trocken machen. Persönlich glitzerte ich nach der Erklärung, wie Neurostimulanzien den Dopaminspiegel beeinflussen mit meiner Flasche herum und ärgerte mich innerlich übermäßig über so unnötige Ungenauigkeiten wie „die Startdosis ist 1/2 Körpergewicht“ (Nein, es ist ein Millionstel davon, denn die Startdosis [mg] ist 1/2 des Körpergewichtes [kg]) und dass auf einer Folie der Font anders war als auf dem Rest der Folien. Andere Eltern haben ihre Blöcke vollgekritzelt, Stifte auseinander- und wieder zusammengebaut, mit den Füßen gewippt, Haare gedreht, aufs Handy geschaut und aus dem Fenster geguckt. Die Ärztinnen überzogen in die Pausenzeit rein, machten dann viel später Pause als vorgesehen (und erst, nachdem Herr Rabe gefragt hatte) und rasten durch die letzten Folien aufgrund des selbst verursachten Zeitmangels sehr schnell durch. Das war alles eher suboptimal.

Heute war dann Tag 2, auf dem Programm standen Präsentationen von (Spezial-)Pädagoginnen, Sozionominnen und einer Vertreterin vom norwegischen ADHS-Verband.

Die Pädagoginnen hatten ganz tolle Tips für Kinder, die langsamer sind als der Rest. Kinder, die schneller sind, kamen nicht vor. Das ist so ein Klassiker, der mich seit meiner eigenen Kindheit nervt, es wird immer erwartet, dass Kinder, die schnell lernen, entspannt Däumchen drehen, während ihre langsameren Peers noch an den Aufgaben knabbern. Einem Kind mit ADHS wird das Däumchendrehen sehr sehr schwer fallen. Es wird sich mit irgendwas anderem beschäftigen und das kann ALLES sein, was dem Kind in seinen bunten Kopf kommt. Aber die Kinder kamen nicht vor.

Die Sozionominnen hatten einen starken Fokus auf das Familiengefüge, das von der Diagnose 1 Hausstandsmitgliedes durcheinander gebracht werden kann. Was, wenn mehrere Familienmitglieder neurodivers sind? Kam nicht vor. Es ist also immer nur 1, was ja auch Sinn macht, es sind ja alles Punktmutationen, wie oben erläutert. Es war auch viel über „Bewältigung“, „Entlastung“ und „Trauer“, als wären alle unsere Kinder schwer behindert. Ich glaube ich lehne mich nicht weit aus dem Fenster, wenn ich sagt, dass 90% der Anwesenden Eltern die ADHS-Diagnose nicht „bewältigen“ müssen. Verdauen, ja, aber Trauerarbeit? Äh. Positiver Punkt an dem Vortrag waren die vielen Links und praktischen Tipps, wo man welche Hilfen und Unterstützung beantragen kann, von Kommune bis NAV.

Danach erzählte eine Vertreterin von ADHS Norwegen, was sie da so machen, für wen sie da sind, wie man Mitglied wird und so weiter. Was aber viel spannender war, war dass sie von ihrem eigenen Leben mit einem, inzwischen 30-Jährigen, stark hyperaktiven ADHS-Kind mit aggressiver Verhaltensstörung erzählt hat. Dagegen sind unsere Probleme peanuts. Aber die Präsentation der Geschichte war ansprechend, kurzweilig und mit wenig bis keinem Text – da kennt jemand ihr Publikum.

Ganz am Schluss sollten wir noch einen Evaluierungsbogen ausfüllen. Und weil ich eine leidenschaftliche Kommentiererin von Fragebögen bin, kommentierte ich auch in diesem herum und erläuterte diverse Antworten genauer. Außerdem merkte ich das mit dem Font und dass ich Quellenangaben will an. Ha! Nehmt das.