Tag 344 – Gewaltige Worte. 

Es folgt: ein kleiner Abriss, wieso mir bei dem Satz „Erziehung ist Gewalt“ ein paar Synapsen abplatzen. 

Disclaimer: mir ist total egal, wie ihr eure Kinder erzieht oder eben nicht erzieht. Echt. Aber wer mir unterstellt, meinen Kindern Gewalt anzutun, dem möchte ich zumindest mal sagen dürfen, wie ich ‚Gewalt‘ für mich definiere. Das tue ich mit diesem Text. 

Zunächst einige Worte zum Hintergrund. Ein gegenwärtiger Trend unter den (Blogger-)Eltern scheint zu sein, nach dem Konzept „Unerzogen“ zu leben. (Jetzt höre ich sie schon wieder schreien, dass es kein Trend sei. Also gut, es gab vermutlich schon immer Leute, die so lebten. Früher hieß das mal antiatoritäre Erziehung oder Laissez Faire. Was natürlich was vöööööllig anderes ist, schon klar. Aber jetzt haben plötzlich viele von den unerzogen lebenden Muttis Familien Blogs. Wirklich jede Woche werden mir ein, zwei Artikel mit teils haarsträubendem Inhalt von mir bis dato gänzlich unbekannten Blogs in die Timeline gespült.) Unerzogen heißt, dass man nicht erzieht. Punkt. Gar nicht. Nein, auch nicht „Eis gibt’s nicht sieben mal am Tag“ oder „Wenn morgen Schule ist, geht’s vor Mitternacht ins Bett“. Aber auch kein „Schönes Bild hast du da gemalt“, denn auch Lob ist verpönt. Rituale und Routinen (je nach, wie soll ich es nennen, Extremismusgrad?) auch. Von Tadel, Drohung oder gar Strafe mal ganz zu schweigen. (Nachzulesen, wenn Sie’s auch nicht glauben können, zum Beispiel hier, aber ich übernehme keinerlei Verantwortung für die Folgen des Lesens!) Alle erzieherischen Maßnahmen werden als Manipulation eingestuft und mit Gewalt gleichgesetzt

Und *zack* Synapsen ab. 

Seriously? Erziehen = Manipulation = Gewalt?

Rituale = Manipulation = Gewalt???

Was für eine hirnrissige Definition von Gewalt ist denn das?

Ja, ich erziehe meine Kinder. Ja, ich lobe sie für (mir wünschenswert erscheinendes) Verhalten und besonders große Bemühungen. Ich tadele sogar manchmal. Ja, wenn mein Kind mich haut, sage ich, dass ich das blöd finde und wir in unserer Familie uns nicht gegenseitig hauen. Ich gehe nicht einfach weg, wie es bei einigen unerzogen lebenden Familien dann gehandhabt wird  (und strafe das Kind mit Liebesentzug?). Ja, damit manipuliere ich meine Kinder. Ich möchte (mir wünschenswert erscheinende) bestimmte Verhaltensweisen bei meinen Kindern verstärken, und ja, ich wünsche mir auch, dass manches unschönes Verhalten recht schnell wieder abgestellt wird oder sich am besten gar nicht erst einschleift. Manipuliere ich damit am Wesen meiner Kinder herum? Untergrabe ihre Selbstwirksamkeit? Zerstöre ihr Selbstvertrauen? Ich denke nicht. Tue ich meinen Kindern Gewalt an? Ich verbitte mir diese Unterstellung!

Warum stört mich das Wort Gewalt in dem Zusammenhang so? Es ist ganz einfach: es ist extrem negativ besetzt und dadurch, dass etwas eigentlich neutrales und alltägliches wie Erziehung mit Gewalt gleichgesetzt wird, wird an den Stellen, an denen tatsächliche, von der Gesellschaft als solche wahrgenommene, Gewalt passiert, diese nivelliert. Vielleicht wird es mit einem Beispiel deutlicher. 

  • Familie Rabe hat ein Abendritual erzieht ihre Kinder und tut ihnen damit Gewalt an.
  • Familie Möwe sperrt die Kinder, wenn diese nicht spuren, in den Keller und tut ihnen damit total krasse Gewalt an. 
  • Mutter Adler verhaut regelmäßig Papa Adler und die Kinder, wenn sie besoffen ist. In dieser Familie herrscht ultrakrasse schreckliche Super-Gewalt. 

Verstehen Sie? Es gibt keine Steigerung von Gewalt. Man hat schon für das Alltägliche das Extreme als Bezeichnung gewählt. Alles, was danach kommt, steht begrifflich auf der gleichen Stufe. 

Mich erinnert das Ganze an das Lied Krieg des Farin Urlaub Racing Teams. Er singt davon, wie er im Schnäppchenkrieg ist, dann im Verkehrskrieg. Am Ende heißt es

Es ist Krieg, wenn ein Mensch auf den andern schießt,

bis das Blut knöchelhoch durch die Straßen fließt.

Es ist Krieg wenn der eine den andern besiegt,

darum kriegen wir niemals genug von Krieg.

Auch hier: durch die alltägliche Verwendung der Kriegsmetapher wird das tatsächliche Grauen des Krieges klein gemacht, fast verniedlicht. Umso größer der Kontrast zum ‚echten‘ Kriegsszenario. Interessant finde ich auch die Interpretation Farin Urlaubs, die häufige Verwendung des Wortes Krieg sei auf die Sieger-Position, die jeder jederzeit innehaben wolle, zurückzuführen. Vielleicht ist es ja mit der Gewalt das gleiche: dadurch, dass alle anderen als  „gewaltvoll handelnd“ bezeichnet werden, was ja, wie schon erwähnt, extrem negativ konnotiert ist, gehört man zum erlesenen und in sich geschlossenen Kreis der ‚Guten‘. Vielleicht. 

Und noch was:

Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.

Nein. Aber Kinder sind auch kein Gras und das Aufwachsen eines Menschen sowie die Persönlichkeitsentwicklung eines solchen ja auch kaum mit dem Wachstum eines Grashalmes zu vergleichen.