Tag 988 – Heul doch!

Ich sitze im Auto und will gerade losfahren, da höre ich ohrenbetäubendes Gebrüll. Sechs oder sieben Jungs brüllen da durcheinander, schubsen sich herum, ich denke unwillkürlich „Oha, Schlägerei?“ und halte nach der Pausenaufsicht Ausschau. Aber da ist keine.

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„Sie standen Schlange, vier Jungs, und schlugen und bespuckten ihn der Reihe nach.“ Das erzählt mir meine Freundin M., da ist ihr Sohn H., der beste Freund von Michel, grad ein paar Wochen an der Schule. Er ist grade mal fünf, die vier Jungs fünf oder sechs. Auch das passiert in der Pause, auch hier sieht es eine andere Mutter und keine Lehrkraft.

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Die Traube aus Jungs ist ein Stück zur Seite gewandert und steht jetzt an der Wand. Drei der Jungs sind besonders aggressiv. Ein Junge steht mit dem Rücken zur Wand, die drei aggressiven Jungs und zwei, die die Lücken schließen, stehen um ihn rum. Alle schreien, bis auf den Jungen an der Wand. Er ist nicht wirklich kleiner oder schmächtiger als die anderen, aber er scheint immer mehr zu schrumpfen. Die Jungs drängen ihn jetzt richtig an die Wand, schubsen seine Schultern, einer schreit aus 20 cm Entfernung in sein Ohr, ein zweiter brüllt ihm direkt ins Gesicht. Sie sind furchtbar aggressiv, ich denke die ganze Zeit „Gleich haut einer von denen zu!“. Sie rupfen an ihm herum und es ist wahnsinnig laut, hier, im Auto, zehn Meter entfernt. Ich sitze da wie erstarrt.

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Ich bin 14 oder 15. Kunstunterricht. Seit Wochen geht mir Christoph (nennen wir ihn mal so, könnte auch Phillip oder Stefan heißen, völlig Wurscht) auf die Nerven. „Hässliche Fotze!“, oder „Schlampe!“ höre ich täglich, immer so, dass es kein Lehrer, aber zwei, drei von Christophs Kumpeln hören. „R. HAT SCHEIDENPILZ! HAHAHAHA!“ schallte es auch schon mal quer über den Schulhof. Was sicher weniger weh getan hätte, wenn es frei erfunden gewesen wäre, aber mein sauberer Freund bis dahin Sexualpartner hatte seine Fresse nicht halten können. Jedenfalls ist jetzt Kunstunterricht. Wir machen Linoldruck. Ich hasse Kunstunterricht eh, bin zu perfektionistisch und zu unkreativ. Christoph und ich werden in den Nebenraum geschickt, die Walzen fürs Drucken holen. Ich recke mich nach oben um eine Walze aus dem Regal zu ziehen, da reißt Christoph die Walze aus dem Regal, sie fällt mir auf den Fuß, es tut höllisch weh. „Heb das auf!“ sagt Christoph, eiskalt „Ich hau dir sonst auf die Fresse, nachher in der Pause.“ Ich schlucke einen Klops Tränen herunter und hebe die Rolle auf. „Hahaha, R. hat sich die Walze auf den Fuß geschmissen!“ grölt Christoph, während er wieder in die Klasse geht.

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Ich bin 7. Vor einigen Wochen ist mein Vater gestorben. Es ist Schulsport. Völkerball. Ich werde getroffen, an den Kopf. Der Schmerz ist schlimm, aber schlimmer ist die Erniedrigung, denn Phillip, der mich abgeworfen hat, ruft „Haha, heul doch! Heul doch!“. Und ich heule. Wie ein Baby. Ich renne in die Umkleide, der Lehrer kommt nicht, irgendwann kommen meine Klassenkameradinnen, ich heule immer weiter, alle gehen raus, ich irgendwann auch, nächste Stunde, Schule ist wichtig. Draußen steht die halbe Klasse, ich heule immer noch. „Heul doch, Heul doch!“ skandieren die anderen Kinder, während ich völlig aufgelöst in unser Klassenzimmer laufe. Nach drei, vier solchen Situationen nehme ich mir vor, nie mehr in der Öffentlichkeit zu heulen.

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Der Junge an der Wand versucht es mit Lachen. Hahaha, alles nur ein Spiel. Schubst wie spielerisch zurück, die Jungen brüllen immernoch, er lacht, nicht herzlich, nicht höhnisch. Er unterwirft sich. Und langsam lassen die Jungs einer nach dem anderen von ihm ab. Der Ohrbrüller braucht dafür am längsten.

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Ich bin 10. recht frisch auf dem Gymnasium. Meine Noten sind nicht, wie meine Grundschullehrerin es prophezeit hatte, schlechter geworden. Sie sind noch besser geworden. „Streber!“ ist das Wort, was für Kinder wie mich reserviert ist, jedenfalls finden das ein paar der Kinder in meiner Klasse, vor allem Stefan. Stefan ist nicht so gut in der Schule. Stefan kompensiert das aber auch nicht mit Fleiß. Ich brauche nichts kompensieren, es fliegt mir einfach zu und macht mir auch noch Spaß, den ich nicht verstecke. Viel lernen tue ich nicht mal. Trotzdem „Streber!“. Meist stehe ich drüber. Heute nicht. Heute haben wir eine Mathearbeit zurückbekommen und ich habe volle Punktzahl. „Whuhuuu!“ sage ich, als ich das Heft öffne. „STREBER!“ brüllt Stefan. Ich nehme mein Mathebuch und gehe durch das Klassenzimmer zu Stefan. Und dann haue ich ihm mit dem Hardcover-Mathebuch ganz besonnen auf den Kopf. Berechtigterweise kriege ich dafür Ärger. Stefan kriegt nix, nur Mitleid für die Beule. Ab da schaue ich in zurückgegebene Arbeiten erst in der Straßenbahn nach Hause.

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Die Kunststunde ist vorbei und wir stehen auf dem Schulhof. Christoph mit seinen Kumpels, ich in einer Mädchengruppe. Christoph kommt rübergeschlendert wie in einem schlechten Teeniefilm, breitbeinig und mit einem gekünstelten Gangleaderhabitus. „Ey, was war das mit der Rolle, häh?“ fragt er. Ich sage trotzig gar nichts. „Wollteste mir die auf den Fuß schmeißen oder was? Soll ich das der Frau N. erzählen, wie du mich angegriffen hast, Fotze?“ Ich sage weiter nichts, jetzt aber weil ich dann vor Wut heulen würde. Und ich heule ja nicht in der Öffentlichkeit. „HHÄÄÄÄHHH???“ schreit mir Christoph mitten ins Gesicht. Wimmernd und mit zitternder Unterlippe renne ich in den Tischtennisraum und verstecke mich heulend unter der Tischtennisplatte, wo mich jede Menge Leute sehen können, aber vielleicht ja auch beschützen. Frau N. wird später dazu sagen, ich solle doch lieber allein irgendwo hingehen, wenn ich mich nicht gut fühle. Ich fühle mich wie der schlimmste Versager auf Erden. In der Öffentlichkeit geheult, Christoph das Feld überlassen, für mich nicht eingestanden. Christoph wird, nachdem ich endlich einer Lehrerin meine Schmach und seine Beleidigungen gestehe, für eine Woche von der Schule freigestellt, danach darf er nicht mehr mit mir reden. Und irgendwann wirds ihm tatsächlich langweilig. Ich bin immer auf der Hut. Keine Angriffsfläche bieten wird mein wichtigstes Ziel.

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Die Jungs spielen jetzt. Sie stehen eineinhalb Meter von dem Jungen entfernt, der immernoch an der Wand steht. Er guckt zu den Jungs, zu Boden, zu den Jungs, sie stehen mit dem Rücken zu ihm. Er fängt an zu weinen. Jetzt reichts. Ich steige aus dem Auto, endlich, gehe auf den Jungen zu. Er sieht mich, er weiß, was jetzt kommt, er reißt die Augen auf und dreht sich um und geht weg, betont unauffällig, fast normal. Ich verstehe ihn. Ich verstehe ihn wirklich gut, denn er wird die Konsequenzen tragen, von dem, was ich jetzt tue. Sein Leben wird noch schlimmer werden. Es wird Gespräche geben, mit den Kindern, eventuell Eltern, es wird Beschuldigungen geben und vielleicht wird, wie bei H., auch einfach gar nichts passieren. Aber wenigstens muss doch mal jemand diesen Pausenaufsichten den Marsch blasen, wieso da auf diesem Teil des Schulhofs niemand ist. Wieder anmeckern, dass da was schief läuft. Wieder anmeckern, dass an dieser Schule in allen Altersklassen übel gemobbt wird und alle so tun, als wäre nix und doch alles fein, wenn immer alle Kinder alle anderen Kinder zum Geburtstag einladen müssen. Es kotzt mich so an. Ich gehe zur Pausenaufsicht, erkläre, was ich gesehen habe, zeige mit dem Finger auf Kinder, Acht-, Neunjährige, Kinder. Der Junge sieht das und beeilt sich, zu den Jungs zurückzukommen, Normalität, haha, alles nur ein Spiel. Kein Verräter sein. Der Lehrer bedankt sich bei mir fürs Bescheid sagen. Ich kann leider nichts mehr sagen. Ich heule ja nicht in der Öffentlichkeit.

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H. macht jetzt Taekwondo. Er muss lernen, sich zu behaupten. Die Schläger und Spucker machen weiter.

15 Gedanken zu “Tag 988 – Heul doch!

  1. Sunni schreibt:

    Was das wirklich Schlimme an diesen Dingen ist? Wenn man als Lehrer dagegen angeht – und man wird es nicht glauben – bekommt man jede Menge Ärger….mit Kollegen! (Was mischt du dich da ein? Die müssen das selbst regeln!Später hilft dem A.-B.-C. auch keiner! Willst dich wohl hochloben lassen..? Die Reihe ist unendlich! Und am besten der Kommentar eines Direktors:“Sie verderben die Preise, da bekommt man eben Ärger!“) Und ich würde es jedes Mal wieder machen! Wer da zuschaut, der hat als Lehrer nämlich den falschen Beruf gewählt!Sunni

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  2. Kari schreibt:

    Zur Pausenaufsicht zu gehen, das haben Sie mE gut gemacht, Frau Rabe. Und: es hilft dem/r Gemobbten akut nichts, aber: das gemobbt werden kann man überwinden indem man stark wird. Aber Peiniger zu sein, das bleibt. Das habe ich einem mittlerweile ach so buddhistisch auftretenden Klassen-„kameraden“ während eines Treffens gesteckt. Danach war mir wohler und er hat für den Rest des Abends die Klappe gehalten.
    LG Kari

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  3. Doro schreibt:

    Ich glaube, die Peiniger sind auch nur Opfer von Erwachsenen, die wegschauen. Vor allem in dem Alter.
    Ich habe von einem ehemaligen Klassenkameraden Jahre nach meiner Schulzeit einen Entschuldigungsbrief bekommen. Meine Wunden sind inzwischen Narben. Glauben Sie mir, der ehemalige Mobber hat auch genug Wunden und ich wünsche mir, dass sie auch zumindest zu Narben verheilen.
    Die beteiligten Erwachsenen sollten mal in die Verantwortung genommen werden.

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  4. A schreibt:

    Sie haben das richtig gemacht. Nach immer wiederkehrendem Mobbing, das mich aus der Schule und in die Depression getrieben hat, ist das meine eine Überzeugung: Wenn irgendwann mal jemand den Mund aufgemacht hätte, meine Eltern, andere Lehrer*innen, wer auch immer, der etwas mitbekam, wäre vielleicht nicht alles ganz so schlimm geworden, hätte ich nicht die Überzeugung gewonnen, dass ich das alles in mich reinfressen und in mir austragen muss. Auch wenn man in dem Moment glaubt, dass es schlimm wäre, wenn das jetzt rauskommt. Da glaube ich ausnahmsweise an Paternalismus.

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  5. ohmskine schreibt:

    Liebe Frau Dr. Rabe,

    ich habe beim Lesen Ihrer Erinnerungen längst verdrängte Bilder vor Augen. Bei mir waren es die Mädchen, die mich diffamiert und erniedrigt haben. Leiser, eleganter und viel nachhaltiger als die Jungs das konnten.
    Ich denke sehr viel darüber nach, wie ich meine Töchter davor schützen bzw. dafür wappnen kann.

    Im Umfeld meiner Kinder (Vorschul-/Grundschulalter) ist das größte Problem, daß die Eltern ihren Kindern Mobbing gar nicht zutrauen. Weshalb Klärungsgespräche an der Haltung der Eltern scheitern (Mein Kind tut so etwas nicht!).
    Da hilft vielleicht der (heimliche) Blick auf den Schulhof, wenn sich die Kinder unbeobachtet wähnen und man entdeckt ganz neue Seiten an seinem Schatz…

    Sie haben das richtig gemacht.
    Herzliche Grüße aus Mainz,
    ohmskine

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  6. Cornelia schreibt:

    In unserer Grundschule gab es Kinder, die als Pausenhelfer eingeteilt waren. Sie haben auf solche Situationen geachtet, versucht zu vermitteln und dann ggf. den Lehrer geholt. Sie hatten vorher entsprechendes Training. Ich denke, dass war nicht schlecht, weil es dann- zumindest auf dem Schulhof- selten zu so erniedrigenden Situationen kam
    Gruß

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  7. Neli schreibt:

    Ich kenne die Situationen, aber ich bin schon als Kind damit anders umgegangen. In den ersten Schuljahren habe ich habe es meinen Eltern erzählt, wenn mich jemand geärgert hat. Dann gab es Aussprachen und Elterngespräche, eventuell auch Hausbesuche der Lehrerin bei den Familien der Mobber, zu DDR Zeiten gängige Praxis. Später habe ich jeden blöden Streich oder Spruch den Lehrern „gepetzt“, das machte mich zwar zum Außenseiter, aber ich hatte meine Ruhe. Ich musste 3mal meine Schule wechseln, weil meine Eltern wegen der Arbeit umziehen mussten.

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  8. Jana schreibt:

    Leider hier an hiesiger (eigentlich wunderschöner) Grundschule Gleiches erlebt. Mit dem Rücken zur Wand hatte der Junge schon eingepullert. Ich habe ihn an die Hand genommen, die anderen Jungs angefaucht (vielleicht auch angeschrien), habe die Hofaufsicht angemault, ob sie nicht mal um die Schuppenecke gucken können (nein können sie nicht – gehört nicht mehr zum Schulgelände), den Jungen übergeben, bin in die Schule marschiert und habe mich beim Schulleiter beschwert. Und nein, keine Großstadtschule in einem sozialen Brennpunkt.

    Zum Kotzen.

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  9. Bettina schreibt:

    …..und dann wundern sich die Eltern, warum ihr Kind nur noch vor dem PC sitzt, oder Drogen nimmt, oder sonst was, Depresdiv wird und eine Sozialphobie entwickelt…und die Mobber werden geschützt, weil: üble Kindheit und so. Scheißdreck!!!!!! In der achten Klasse gibt es ein Anti-Mobbing-Training, leider ein paar Jahre zu spät……Es ist einfach nur zum Kotzen. ….😑

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Ich freue mich über jeden Kommentar, außer er ist blöd, dann nicht. Außerdem ist jetzt wohl der richtige Zeitpunkt, um Ihnen mitzuteilen, dass WordPress bei jedem Kommentar eine mail an mich schickt, in der die Mailadresse, die Sie angegeben haben und auch ihre IP-Adresse stehen. Müssen Sie halt selbst wissen, ob Sie mir vertrauen, dass ich diese mails von meinen Devices alle sofort lösche, und ob Sie damit leben können, dass WordPress diese Daten auch speichert (damit Sie nämlich beim nächsten Mal hier einfacher kommentieren können).

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