Tag 218 – Klischees

Ich war heute in einem Waldorfkindergarten. Das kam so: am Montag schrieb eine Mutter aus meiner Barselgruppe (Muttergruppe, die sich, in meinem Fall, alle Jubeljahre mal trifft), sie ginge heute zu einem offenen Kindergarten, ob nicht noch mehr Lust hätten. Ich, ausgehungert nach sozialen Kontakten wie ich bin, sagte direkt zu, ohne mir noch groß Gedanken drüber zu machen. Offene Kindergärten sind mir zwar etwas suspekt, aber egal, Hauptsache raus!

Heute im Bus (die andere Mutter hatte geschrieben, welchen wir bis wohin nehmen müssen) checkte ich dann mal die Adresse und den Kindergarten an sich. Steinerkindergarten. Ach du…? Ich dachte wirklich kurz darüber nach, ob ich doch noch absagen sollte. Steinerpädagogik ist mal so gar nix für mich und das nicht erst seit ich diesen Artikel gelesen habe. Für mich ist das die Homöopathie der Erziehung. Zu einer Zeit, als Schläge und in den Keller sperren (oder eben Aderlass) noch zum täglichen Leben gehörten, war Steiner sicherlich ein Vertreter einer neuen, fortschrittlichen und sanften Art der Erziehung (und Hanemann eben der Heilkunde). Aber heute weiß man vieles doch so viel besser und da finde ich Steiners Erziehungslehren recht verschroben, steif und überholt. Und menschenfeindlich gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen beispielsweise. Oder Linkshändern. Die Einstellung vieler Antroposophen zum Impfen finde ich gemeingefährlich. Man wächst nicht an Kinderkrankheiten. Aber viele sterben dran. Aber egal, ich schweife ab. Ich halte jedenfalls nichts von Waldorf, bin aber nunmal auf dem Weg zum Waldorfkindergarten. Nun ja, wenn schon scheiße, dann scheiße mit Schwung. 

Mir öffnet ein Mann mit ungekämmtem, garantiert von der Freundin mit der Maschine geschnittenem Haar und Zauselbart. Schätzungsweise so alt wie ich. Er stellt sich vor: er heißt Thore. Sein Sohn (ca. 5) ist auch da. Der heißt Odin. (Ehrlich wahr!) Beide tragen garantiert von der Freundin selbst genähte Leinenkleidung mit unförmigen Schnitten in Erdtönen. Garantiert von der Freundin selbst gestrickte Wollsocken mit Löchern. Thore redet so sanft mit mir, dass ich ihm in die Fresse schlagen möchte. Und er lächelt beseelt. Bekifft ist er nicht, denke ich, keine roten Augen und auch kein dämliches Kiffergrinsen, einfach so ein super-achtsames „Ich sehe DICH!“-Lächeln, das mich aggressiv macht. Ich sehe mich hilflos in dem kleinen Raum um, diverse Muttis mit Kleinkindern und Babys in mehr oder weniger abgeranzter Wollkleidung und die eine aus der Barselgruppe, die dieses Ding angeleiert hat. Ihr Kind trägt saubere und heile Wollkleidung irgendeiner teuren Marke und sie sieht genauso verloren aus wie ich. Ich setze mich zu ihr. Pippi fängt schon mal an, Musikinstrumente zu besabbern. 

Wir singen. Wir singen viel. Wir trommeln auf pseudoafrikanischen Trommeln, schütteln Rhythmuseier, Thore spielt Gitarre, Odin tanzt sehr expressiv, die Babys und Kleinkinder sind je nach Veranlagung begeistert bis desinteressiert, wir Muttis singen. Ich singe laut, weil ich alles andere total albern finde (scheiße mit Schwung!), die anderen Muttis piepsen herum. Ein Papa kommt zu spät mit einem völlig verrotzten Einjährigen Kind, die beiden haben scheinbar die gleiche Näh-, Strick- und Haareschneidbegabte Freundin wie Thore und Odin. Wir singen noch mehr. Der Papa singt auch laut. Immerhin. Pippi ist im siebten Himmel. Zottelbart-Thore himmelt sie förmlich an, oder zumindest die Gitarre. Sie liebt Musik. Mir fällt auf, dass sie sich auf meinem Schoß im Takt hin und herwiegt. Dann fällt mir auf, dass ich mich im Takt hin und herwiege und sie dabei mitbewege. Ich bin sehr froh, dass das Gesinge danach vorbei ist. 

Es gibt Lunch, alle haben was mitgebracht. Ich auch, nämlich eine Banane. Tadaaa! Pippi isst eine halbe Banane, die andere Hälfte will sie nicht und ich verschenke sie an ein anderes Kind, dessen Oma nichts mitgebracht hat. Ich trinke einen Becher Kaffee, der so dünn ist, dass man in der vollen Tasse noch den Boden sehen kann. Neben mir diskutieren zwei Muttis über Impfungen. Ich denke noch, das kann doch nicht wahr sein, so viele Klischees halte ich gar nicht aus, da sagt die eine (Harry-Potter-Brille, Schlabberpulli über magerem Oberkörper mit schlechter Haltung und ohne BH) „Ja, es ist so schlimm, meine Kleine ist adoptiert und wurde direkt nach der Geburt gegen Hepatitis geimpft, die Mutter hatte das! Das konnten wir natürlich nicht mehr verhindern. Schlimm ist das.“. Die andere Mutti nickt mitfühlend. Innerlich renne ich schreiend im Kreis. Mit all meiner Willenskraft wende ich meine Aufmerksamkeit etwas anderem zu.

Pippi lutscht an Musikinstrumenten. Ich möchte alles desinfizieren. Sie pupst hörbar, ich nutze die Gelegenheit zu einer Pause und wickle sie laaaange. Dann setzen wir uns wieder zu der Barselgruppenmutti. Ihr Kind kommt mir infekttechnisch halbwegs safe vor und unsere beiden Kinder besabbern sich ausgiebig gegenseitig. Pippi ist pikiert, als das andere Kind ihr ins Auge piekt. Alle stillen ihre Kinder (nein, natürlich der Papa und die Oma nicht), es ist kurz gemütlich. Die andere Barselgruppenmutti erzählt mir, dass sie und ihr Mann ab Sommer in den USA ein Forschungssemester machen werden. Odin schlägt auf eine Trommel. Alle schrecken hoch. Thore kündigt an, dass nächste Woche kein offener Kindergarten sein wird, wegen der Osterferien. 

Ach, wie schade. 

Draußen blökt ein Schaf. 

Wir gehen nach Hause. Ich brauche einen ordentlichen Kaffee und was zu essen. Pippi schläft wie ein Stein im Kinderwagen. Ich kompensiere das Waldorftrauma mit dem Kauf von zwei Kleidchen für Pippi im Sonderangebot, keins ist aus Wolle oder Leinen und beide sind heile und bunt. Meine Ohren heile ich mit den Foo Fighters von den Ohrwürmern des Vormittags. Ich denke an Pippis leuchtende Augen beim Singen und klatschen und trommeln. 

Vielleicht geht Herr Rabe ja noch mal mit ihr hin. 

Tag 66

Mannmannmann, schon wieder so spät. Wo ist denn nur der Tag hin? Ich bin auch zum Umfallen müde, gut, dass ich schon im Bett liege.

Das Baby hat gerade mal wieder irgend so einen Entwicklungsschub. Seit Montag, wo es ja überraschend versucht hat sich herumzudrehen und das auch mehrmals fast ganz alleine schaffte, will es spätestens alle zwei Stunden stillen und braucht dann ewig lang. Manchmal sogar beide Seiten, was sehr ungewöhnlich ist. Jedenfalls schläft es sich da nicht so gut, wenn man alle zwei Stunden ne halbe benuckelt wird. Mein Geisteszustand leidet extrem ein bisschen darunter. Außerdem nöckelt das Baby auch viel rum, es kaut auf meinem Finger (Kauleisten-Jucken?) und die Hand-Augen-Koordination ist sehr viel besser geworden. Eigentlich will es glaub ich am liebsten morgen loslaufen. Mir hinterher. Wenn man es auf die Beine „stellt“, freut es sich nen Ast und fängt sofort zu erzählen an. Das ist sehr niedlich, aber scheinbar sehr sehr anstrengend grad für das Baby selbst und das muss es den Eltern natürlich mitteilen. Naja. Die ersten Schübe sind ja noch kurz.


Heute früh sind die Großeltern abgereist. Das Hotel in dem sie waren liegt auf dem Weg zum Kindergarten. Um 08:30 waren wir verabredet, ich sollte erst das Kind wegbringen und dann die Großeltern vom Hotel zum Bus bringen. Um 08:02 passierte ich mit Kind das Hotel und meine Schwiegereltern lauerten mir schon auf. Hätten die Koffer schon runter gebracht und ausgecheckt. Ob ich zehn Minuten später wieder da sein könne, wegen des Busses (der Bus fährt alle 10 Minuten, braucht 30 zum Flughafen, der Flug ging um 11:30 Uhr. Denken Sie sich den Rest). Ich hab also das Kind beim Kindergarten nur über den Zaun geworfen nur sehr kurz verabschiedet und war 9 Minuten später wieder am Hotel. Also um 08:13 Uhr, immer noch 17 Minuten bevor wir ursprünglich verabredet waren. Ich sagte nichts. Dann gingen wir zum Bus, zu einer anderen Haltestelle, als ich dachte oder Sinn machte, aber ich sagte nichts. Es kam sofort ein Bus, was gut war weil viel länger hätte ich nicht nichts sagen können. Und so saßen meine Schwiegereltern dann zwei Minuten vor der Zeit, zu der wir verabredet waren, schon im Bus.


Heute mittag war auf mein Anregen hin ein Treffen der Barselgruppe, also die Muttis mit den Babys. Einige sind vielleicht doch interessanter, als bisher gedacht. Eine zum Beispiel, sie kann nicht älter sein als ich, eher jünger denke ich, hat eine 22-Jährige Stieftochter. Dafür ist die mit den Zwillingen viel älter als ich dachte (und sie aussieht, ehrlich, so will ich mit 39 bitte auch aussehen. Aber genug der Oberflächlichkeiten). Eine hat ein Familienbett und testet glaube ich auch ihre Bullshittoleranz, jedenfalls kamen von ihr so Konfliktvermeidungsallgeimeinplätze wie „Jaja, da muss jede Familie den Weg finden, der für sie passt…“. Hätte auch von mir sein können, der Satz.


Dem Baby ne neue Wollstrumpfhose gekauft. Die eingelaufene ist nicht zu retten. Die hat jetzt die Puppe an.


Heute Nachmittag war dann noch Elternabend im Kindergarten. Wir sollen den Kindern die Haare täglich prophylaktisch Läusekämmen. Jaja. Klar, mache ich*. Des Weiteren wird es weiterhin kein warmes Essen geben, sondern an den Brotdosen festgehalten. Ok für mich. Und wir mussten einen dämlichen Tanz lernen, ich wollte mir dabei gerne was in die Nase rammen, aber das ging nicht, also tanzte ich fröhlich lächelnd den doofen Kindertanz (Wenn schon Scheiße, dann Scheiße mit Schwung!).


Danach wars es zu spät für Ballett. Und fürs Kind auch, es machte ein Theater beim ins Bett bringen, als würde Herr Rabe ihm die Haut bei lebendigem Leib abziehen. Morgen bin ich wieder dran. Ich freu mich schon*.


Morgenn ist Muttisport, dann evtl Mittagessen, und dann ein berufliches Meeting zu meinem Projekt (an dem andere auch mitarbeiten, also zumindest indirekt, ist kompliziert, unser nicht vorhandenes Organigramm). Ich bin ein bisschen nervös, weil nicht ganz sicher, ob mein Hirn noch gut genug funktioniert oder vielleicht auch mit eingelaufen ist.

*ganz sicher nicht.

Tag 44

Es gibt jetzt eine blogroll-Langform. Jucheh.

Ich bin aber auch müde und so, deshalb nur fix was heute und gestern so war:

  • Das Kind hustet und schläft schlecht, will auf mir drauf liegen aber das geht nicht, weil da schon das Baby liegt. Außerdem knirscht es mit den Zähnen.
  • Ich schlafe dementsprechend schlecht bis gar nicht.
  • Statistikkurs war eher so meh heute wieder. Außer das Kollegin A. aus dem Urlaub wieder da ist und jetzt mit mir leidet. Und das Baby bewundert, wie niedlich es die ganze Zeit schläft (an mir dran).
  • Möglicherweise haben wir endlich einen Schnuller, der vom Baby akzeptiert wird. Das heißt, wir müssen jetzt vielleicht nicht mehr ständig unsere kleinen Finger ins Baby halten.
  • Das Baby hat heute beim Abhalten ins Waschbecken gekackt und das Kind damit schwer beeindruckt (das Kind saß auf dem Klo, deshalb das Waschbecken).
  • Gestern Barselgruppentreffen. Meine Bullshittoleranz wird sehr auf die Probe gestellt von der einen. „Also ich arbeite ja im Kindergarten, und das ist sooo ein großer Unterschied zwischen Mädchen und Jungen, Mädchen sind halt ruhiger und Jungs haben mehr Energie…“ Ich wünsche mir Valium oder dass ich nochmal deutlich besseres norwegisch kann, damit ich der mal auseinandersetzen kann, wie solche Annahmen erstens zustandekommen und zweitens durch Leute wie sie die sozial konstruierten Geschlechterunterschiede für die nächste Generation wieder zementiert werden.
  • In meinem linken Ohr piepts immer noch.
  • Hab ich erwähnt, dass ich müde bin?

Tag 37 – Barselgruppe

Barselgruppe heißt übersetzt ca. Säuglingsgruppe und ist ein Angebot der Kommune, um frisch gebackene Mütter zusammenzubringen und soziale Kontakte herzustellen. Das klingt absurd, ist es irgendwie auch, aber bei den leicht antisozialen Norwegern notwendig, damit nicht jede Mutter hier anfängt zu bloggen alleine zu Hause hockt. Und bevor jetzt einer schreit „und die Väter???“: Nix da, Väter. Dieses Angebot richtet sich ausdrücklich nur an die Mütter. Leider.

Heute war ich also beim Barselgruppe-Treffen. Mit 8 anderen Muttis und 9 anderen Babys saßen ich und das Baby da und waren aufgeregt, also das Baby zuerst nicht weil es geschlafen hat. Als erstes ging es um die genauen Geburtsdaten. Wir stellten dann fest, dass alle unsere Babys innerhalb von 10 Tagen geboren sind, also alle fast gleich alt. Die Unterschiede zwischen den Babys überraschen mich immer wieder. Ein Baby wog schon bei seiner Geburt soviel wie meins bei seinem 6-Wochen-Checkup. Das sieht jetzt aus wie 4-5 Monate. Die Zwillinge sind natürlich viel viel kleiner. Obwohl (fast) ausgetragen. Wogen zusammen bei der Geburt so viel wie das Brocken-Baby. Aber auch zwei von den anderen Babys sind noch so winzig, dass mein Baby sie wahrscheinlich plattmachen würde, könnte es mehr als seinen Kopf heben oder die Hand anlutschen. Aber gut, die Babys sind natürlich niedlich und so, aber interessant sind für mich ja eher die anderen Muttis. Und wie soll ich sagen… Vielleicht eine, maximal zwei aus der Runde. Das reicht ja eigentlich auch, man muss ja nicht mit allen super dicke werden. Eine hat die ganze Zeit mit offenem Mund Kaugummi gekaut und in meinem Kopf sagte meine doofe Grundschullehrerin gemeine Sachen über Wiederkäuer. Eine ist Zahnärztin, ca. 40, erstes Kind, hypernervös mit dem Kind. Eine redete sehr viel, ist eigentlich nett, sagte dann aber so ganz falsche Sachen über Tragehilfen („Ach, voll doof, ich hab den Ergobaby gekauft und aber nicht den 360, da kann das Baby nicht nach vorne gucken, jetzt kann ich damit ja gar nix anfangen…“) und ich musste mir die Zunge nahezu abbeißen um nicht rumzuklugscheißern und mich gleich beim ersten Treffen unbeliebt zu machen. Die anderen aus der Runde nickten auch so verständnisvoll zu ihren Ausführungen, da muss ich an meiner Bullshittoleranz arbeiten, wenn wir uns öfter treffen. Oder mit sehr guten Argumenten Überzeugungsarbeit leisten. Also besseren als „Aber das ist ganz FALSCH!“. Eine weitere Mutti ist ziemlich langweilig, zwei sind etwas weniger langweilig, waren heute sehr still, aber das war ich auch. Eine Mutti ist aus den USA und hat einen sehr charmanten Akzent. (Sicher charmanter als meiner.) Wir werden sehen, was draus wird, jetzt legt die eine erstmal ne Facebookgruppe an und dann können wir zusammen spazieren gehen und/oder Kaffee trinken und/oder uns in unseren Zuhausen besuchen.

Nach dem Treffen hab ich das Kind abgeholt. Das war heute in einen Wasserlauf gefallen. Was ich total super finde an Norwegen, ist dass die mit den Kindern ganz viele Sachen draußen machen, die in Deutschland fast gar nicht denkbar wären. Heute sind sie zum Fjord gefahren, haben Krebse aus dem Wasser gefischt und Algen, sind herumgekrabbelt auf den Steinen und die Mutigen sind auf Bäume geklettert. Die ganz Mutigen auch ganz hoch. Das Kind hat sich noch nicht so ganz getraut, aber das kommt sicher noch. Dafür hat das Kind halt an so einem Tümpelchen gespielt und mit dem Betreuer ein „Boot“ fahren lassen, eigentlich nur ein kleines Brett. Irgendwann wollte das Kind dann wohl auch Boot fahren und der Betreuer konnte es nicht mehr stoppen, da stand es schon auf dem sinkenden Boot und fiel in das knietiefe Wasser, kippte nach vorne und landete auf allen vieren. Im Bus haben die Kinder alle Wechselklamotten, nur Schuhe hatte es nur die, die es angehabt hatte und die Jacke war auch nass, aber das war wohl ganz am Schluss und sie wollten eh fahren.

Das Kind und ich haben dann zu Hause erstmal Wäsche gewaschen. Dann gabs Bratnudeln für die Fressmaschine zum überbrücken und zum Abendessen Blumenkohlsuppe. Das Kind fand es „fempegodt“ („fuperlecker“) und wollte danach mal wieder nur von mir vorgelesen bekommen. Danach war ich auch wieder motiviert für den letzten Rest der Statistik-Übungsaufgaben. Jetzt bin ich damit fertig und gehe gleich ins Bett, das erste mal seit tausend Jahren vor 22 Uhr.