Ich war heute in einem Waldorfkindergarten. Das kam so: am Montag schrieb eine Mutter aus meiner Barselgruppe (Muttergruppe, die sich, in meinem Fall, alle Jubeljahre mal trifft), sie ginge heute zu einem offenen Kindergarten, ob nicht noch mehr Lust hätten. Ich, ausgehungert nach sozialen Kontakten wie ich bin, sagte direkt zu, ohne mir noch groß Gedanken drüber zu machen. Offene Kindergärten sind mir zwar etwas suspekt, aber egal, Hauptsache raus!
Heute im Bus (die andere Mutter hatte geschrieben, welchen wir bis wohin nehmen müssen) checkte ich dann mal die Adresse und den Kindergarten an sich. Steinerkindergarten. Ach du…? Ich dachte wirklich kurz darüber nach, ob ich doch noch absagen sollte. Steinerpädagogik ist mal so gar nix für mich und das nicht erst seit ich diesen Artikel gelesen habe. Für mich ist das die Homöopathie der Erziehung. Zu einer Zeit, als Schläge und in den Keller sperren (oder eben Aderlass) noch zum täglichen Leben gehörten, war Steiner sicherlich ein Vertreter einer neuen, fortschrittlichen und sanften Art der Erziehung (und Hanemann eben der Heilkunde). Aber heute weiß man vieles doch so viel besser und da finde ich Steiners Erziehungslehren recht verschroben, steif und überholt. Und menschenfeindlich gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen beispielsweise. Oder Linkshändern. Die Einstellung vieler Antroposophen zum Impfen finde ich gemeingefährlich. Man wächst nicht an Kinderkrankheiten. Aber viele sterben dran. Aber egal, ich schweife ab. Ich halte jedenfalls nichts von Waldorf, bin aber nunmal auf dem Weg zum Waldorfkindergarten. Nun ja, wenn schon scheiße, dann scheiße mit Schwung.
Mir öffnet ein Mann mit ungekämmtem, garantiert von der Freundin mit der Maschine geschnittenem Haar und Zauselbart. Schätzungsweise so alt wie ich. Er stellt sich vor: er heißt Thore. Sein Sohn (ca. 5) ist auch da. Der heißt Odin. (Ehrlich wahr!) Beide tragen garantiert von der Freundin selbst genähte Leinenkleidung mit unförmigen Schnitten in Erdtönen. Garantiert von der Freundin selbst gestrickte Wollsocken mit Löchern. Thore redet so sanft mit mir, dass ich ihm in die Fresse schlagen möchte. Und er lächelt beseelt. Bekifft ist er nicht, denke ich, keine roten Augen und auch kein dämliches Kiffergrinsen, einfach so ein super-achtsames „Ich sehe DICH!“-Lächeln, das mich aggressiv macht. Ich sehe mich hilflos in dem kleinen Raum um, diverse Muttis mit Kleinkindern und Babys in mehr oder weniger abgeranzter Wollkleidung und die eine aus der Barselgruppe, die dieses Ding angeleiert hat. Ihr Kind trägt saubere und heile Wollkleidung irgendeiner teuren Marke und sie sieht genauso verloren aus wie ich. Ich setze mich zu ihr. Pippi fängt schon mal an, Musikinstrumente zu besabbern.
Wir singen. Wir singen viel. Wir trommeln auf pseudoafrikanischen Trommeln, schütteln Rhythmuseier, Thore spielt Gitarre, Odin tanzt sehr expressiv, die Babys und Kleinkinder sind je nach Veranlagung begeistert bis desinteressiert, wir Muttis singen. Ich singe laut, weil ich alles andere total albern finde (scheiße mit Schwung!), die anderen Muttis piepsen herum. Ein Papa kommt zu spät mit einem völlig verrotzten Einjährigen Kind, die beiden haben scheinbar die gleiche Näh-, Strick- und Haareschneidbegabte Freundin wie Thore und Odin. Wir singen noch mehr. Der Papa singt auch laut. Immerhin. Pippi ist im siebten Himmel. Zottelbart-Thore himmelt sie förmlich an, oder zumindest die Gitarre. Sie liebt Musik. Mir fällt auf, dass sie sich auf meinem Schoß im Takt hin und herwiegt. Dann fällt mir auf, dass ich mich im Takt hin und herwiege und sie dabei mitbewege. Ich bin sehr froh, dass das Gesinge danach vorbei ist.
Es gibt Lunch, alle haben was mitgebracht. Ich auch, nämlich eine Banane. Tadaaa! Pippi isst eine halbe Banane, die andere Hälfte will sie nicht und ich verschenke sie an ein anderes Kind, dessen Oma nichts mitgebracht hat. Ich trinke einen Becher Kaffee, der so dünn ist, dass man in der vollen Tasse noch den Boden sehen kann. Neben mir diskutieren zwei Muttis über Impfungen. Ich denke noch, das kann doch nicht wahr sein, so viele Klischees halte ich gar nicht aus, da sagt die eine (Harry-Potter-Brille, Schlabberpulli über magerem Oberkörper mit schlechter Haltung und ohne BH) „Ja, es ist so schlimm, meine Kleine ist adoptiert und wurde direkt nach der Geburt gegen Hepatitis geimpft, die Mutter hatte das! Das konnten wir natürlich nicht mehr verhindern. Schlimm ist das.“. Die andere Mutti nickt mitfühlend. Innerlich renne ich schreiend im Kreis. Mit all meiner Willenskraft wende ich meine Aufmerksamkeit etwas anderem zu.
Pippi lutscht an Musikinstrumenten. Ich möchte alles desinfizieren. Sie pupst hörbar, ich nutze die Gelegenheit zu einer Pause und wickle sie laaaange. Dann setzen wir uns wieder zu der Barselgruppenmutti. Ihr Kind kommt mir infekttechnisch halbwegs safe vor und unsere beiden Kinder besabbern sich ausgiebig gegenseitig. Pippi ist pikiert, als das andere Kind ihr ins Auge piekt. Alle stillen ihre Kinder (nein, natürlich der Papa und die Oma nicht), es ist kurz gemütlich. Die andere Barselgruppenmutti erzählt mir, dass sie und ihr Mann ab Sommer in den USA ein Forschungssemester machen werden. Odin schlägt auf eine Trommel. Alle schrecken hoch. Thore kündigt an, dass nächste Woche kein offener Kindergarten sein wird, wegen der Osterferien.
Ach, wie schade.
Draußen blökt ein Schaf.
Wir gehen nach Hause. Ich brauche einen ordentlichen Kaffee und was zu essen. Pippi schläft wie ein Stein im Kinderwagen. Ich kompensiere das Waldorftrauma mit dem Kauf von zwei Kleidchen für Pippi im Sonderangebot, keins ist aus Wolle oder Leinen und beide sind heile und bunt. Meine Ohren heile ich mit den Foo Fighters von den Ohrwürmern des Vormittags. Ich denke an Pippis leuchtende Augen beim Singen und klatschen und trommeln.
Vielleicht geht Herr Rabe ja noch mal mit ihr hin.